Abendland
bestreite, das Stück aber gerade einmal acht Minuten lang war, schlug An der Gassen vor, besser: verfügte er, daß der Abend folgendermaßen ablaufen sollte: 1. Abspielen des Tonbandes mit der Musik von Georg Lukasser – 8 min; 2. Vortrag von Walfried An der Gassen mit dem Titel »Theorie der Sprechmelodiemethode anhand eines Stücks von Georg Lukasser« – 75 min; 3. Abermaliges Abspielen der Musik von Georg Lukasser – 8 min. Mein Vater war ohne jeden Einwand damit einverstanden. Meine Mutter nannte An der Gassen einen geisteskranken Dieb, sie drohte meinem Vater, Carl anzurufen; worauf mein Vater ihr ruhig ins Gesicht sagte, in diesem Fall würde er sie verlassen. Ich hielt mich raus.
Sobald sich mein Vater entschlossen hatte, nur dieses eine Stück zu präsentieren, meinte er, Fehler und Schwächen daran zu entdecken. Er begann zu »überarbeiten«. Und ließ sich nicht beraten. Von niemandem. Die Chorproben wurden immer seltener, weil der Chorleiter oft keine Zeit hatte; die Zusammenarbeit mit Walfried An der Gassen kam völlig zum Stillstand – es gebe nichts mehr zu besprechen, war die Begründung meines Vaters. Die Korrekturen an seinem Prototyp waren vielfältig. Zunächst mischte er unter die Chorstellen das »Original«, nämlich den aus seinem Zusammenhang gelösten Satzfetzen des Steuerberaters. Der Chor war aber viel länger als der Satz, also vervielfältigte er den Satz und baute aus den Kopien eine Schleife, verdoppelte und verdreifachte diese Schleife schließlich sogar und breitete sie zu einer Art Soundteppich aus. Um dem Ganzen Körper zu geben, mischte er den Satz, nachdem er das Band auf ein Viertel seiner Geschwindigkeit heruntergefahren hatte, darüber; der Satz war nun zwar nicht mehr zu verstehen, so langsam war er, aber in der Funktion des Basses war er genau richtig. Zum Baß gehört – jedenfalls im Jazz – kontrapunktisch das Hi-Hat beim Schlagzeug, das den Rhythmus erzeugenden Baßtönen die Begrenzung liefert. Um diesen Effekt zu erzielen, vervierfachte er die Geschwindigkeit des Bandes – der Satz wurde zu einem stakkatoartigen Zwitschern und war ebenfalls nicht mehr zu verstehen –, und plazierte ihn als Schleife im Stereo sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite, so daß er zusammen mit dem Baß in der Mitte und der unbehandelten O-Ton-Schleife als Teppich darüber ein stabiles Dreieck bildete. In diesen Rahmen setzte er den Chor – nachdem er auch an ihm einige »Verbesserungen« vorgenommen hatte.
Mit An der Gassen zerstritt er sich schließlich, weil der ihm zu anmaßend gegenübertrat. Er werde, sagte mein Vater, sein Musikstück in Darmstadt präsentieren; aber vorher werde es niemand zu hören kriegen. Niemand. Auch der Herr An der Gassen mußte einsehen, daß die Sturheit meines Vaters nicht zu brechen war. Er kannte ja die erste Fassung des Stücks und wird sich gedacht haben, allzuviel würde sich daran ohnehin nicht ändern. – Er täuschte sich gewaltig!
Darmstadt, Darmstadt. – Die Zuhörer glaubten zuerst an ein technisches Gebrechen. Daß irgend etwas mit dem Abspielgerät nicht stimmte. Nach einer halben Minute schaltete Ernst Thomas das Gerät ab und versuchte, den Tonkopf zu säubern. Aber daran lag es nicht. Mein Vater sagte nichts, er saß auf seinem Sessel, die Arme hochverschränkt und starrte grimmig in die Wand.
Was die Zuhörer so irritierte, war das Rauschen. Das Rauschen überdeckte die Musik; die klang von weither, so als sei ein Sender nicht richtig eingestellt. Zuerst meinten einige der Zuhörer, sie würden zum Narren gehalten – »den Teilnehmern der Darmstädter Ferienkurse kann man alles aufbinden …«; daß mein Vater und Herr An der Gassen sich tatsächlich einbildeten, sie könnten Bandrauschen als Musik verkaufen, nach dem Motto: Früher benutzten die Komponisten den vorhandenen Vorrat an Tönen, um sie in einem Kunstwerk neu zu ordnen, hier schafft ein Kunstwerk neue Klänge pur aus dem verwendeten Material. Tatsächlich probierte der vor Scham und Ärger zitternde An der Gassen diese Argumentation – bis ihm mein Vater kurzerhand widersprach: Das Rauschen sei Folge des oftmaligen Kopierens, das sei alles. Woraufhin An der Gassen auf sein Referat verzichtete.
In der allgemeinen Ratlosigkeit meldete sich einer der Seminarteilnehmer zu Wort. Wenn man leider schon nicht hören könne, was Herr Lukasser komponiert habe, ob er wenigstens bereit wäre, quasi als Ersatz, etwas auf der Gitarre vorzuspielen. Dieser Herr
Weitere Kostenlose Bücher