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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Geländer gehängt. Die Böden habe ich mit Seifenlauge gescheuert und mit Wachsmilch eingelassen. Die Fenster habe ich poliert, die Möbel in der Küche mit Essigwasser abgerieben. All die Gegenstände, die keinen anderen Zweck haben, als zu Markierungen der Erinnerung zu dienen, habe ich abgestaubt – darunter das Geschenk von Maybelle zu meinem dreiunddreißigsten Geburtstag. Es ist ein Buchschoner aus flaschengrünem Krokoleder mit Reißverschluß im Schnitt, geräumig genug, so daß auch größere Formate darin Platz haben, innen gefüttert mit Seide und versehen mit einem Fach für ein Notizbuch und einem schmalen Schlitz, in dem ein Bleistifthalter aus Bakelit mit einem Spitzer steckte, der mir leider verlorengegangen ist.
    Seit einiger Zeit telefonieren Dagmar und ich wieder fast jede Nacht miteinander. Wir gliedern damit unser Alleinsein – das sie nicht und ich nicht mit Einsamkeit verwechselt haben möchten. Gestern nacht um eins wollte sie wissen, wer Maybelle Houston sei. Wie sie auf den Namen komme, fragte ich.
    »Was denkst du!« spielte sie die Empörte. »Daß ich deine Bücher nicht lese? Wahrscheinlich habe ich nicht alle gelesen, aber dein erstes habe ich gelesen. Es ist einer gewissen Maybelle Houston gewidmet.«
    Da habe ich auch ihr alles über Maybelle und mich erzählt.
    Heute mittag rief sie an und sagte: »Wir sollten das nächtliche Telefonieren lassen. Es verdirbt mir den nächsten Tag, weil ich zuwenig Schlaf kriege, und es bringt nichts.«
    Vor allem der Erinnerung zuliebe und weil ich doch wissen wollte, wie sich so ein Satz anfühlt, zitierte ich Maybelle und sagte: »You can’t do that to me!«
    Noch etwas – nämlich, um diesen Teil abzurunden, bevor ich mit dem letzten beginne: Am 16. September 2001, ein halbes Jahr nach Carls Tod, es war ein Sonntag, rief nachts um zwölf – jawohl! – Chucky an. Ich weiß bis heute nicht, wie er zu meiner Nummer gekommen war, im Telefonbuch steht sie nicht. Auf dem Display konnte ich sehen, daß er, bevor ich nach Hause gekommen war, bereits sechzehnmal meine Nummer gewählt hatte. Ohne Begrüßungsfloskel sagte er, er habe mich im Fernsehen gesehen und müsse dringend mit mir sprechen. Genau sagte er: »Ich muß dringend mit Ihnen sprechen.« »He«, sagte ich, »wir kennen uns doch! Chucky! Wir müssen doch nicht Sie zueinander sagen.« Das ignorierte er. Also sagte ich: »Worüber wollen Sie mit mir sprechen, Herr Rottmeier?« »Über die Sendung«, sagte er. »Alles weitere nicht am Telefon.«
    Ich hatte an diesem Abend an einer Fernsehdiskussion des ORF teilgenommen. Es ging um Afghanistan, um einen eventuell geplanten Militäreinsatz der USA gegen das Regime der Taliban als Folge der Terroranschläge vom 11. September. Ein Oberst des österreichischen Bundesheeres war eingeladen, ein ruhiger, sympathischer Mann, mit dem ich am Ende der Sendung Visitenkarten tauschte; weiters ein Journalist, der seit vielen Jahren Afghanistan, Usbekistan, Tadschikistan, den Iran, Pakistan und Indien bereiste und Bücher darüber schrieb und der jede Wortmeldung mit »Nein« begann, aber nicht im Sinne eines Widerspruchs, sondern als wolle er sagen: Jetzt im Ernst; weiters eine Ärztin, die für Ärzte ohne Grenzen tätig war und gleich in ihrem Eingangsstatement klarstellte, daß sie es für möglich halte, daß George W. Bush eine Atombombe auf Kabul werfe, natürlich nicht aus militärischen Überlegungen, dort unten sei ja eh nichts mehr kaputtzumachen, sondern einer nationalen Befriedigung willen. Neben mir saß eine Friedensaktivistin – als solche wurde sie jedenfalls vom Moderator vorgestellt –, eine attraktive Frau um die Vierzig, die uns ermahnte, keine »Denkvariante auszuschließen«, auch nicht – nach dem Prinzip cui bono? –, daß die Passagiermaschinen am 11. September von Agenten der CIA im Auftrag der amerikanischen Regierung auf die Türme des World Trade Center und auf das Pentagon gelenkt worden seien. Ich war wohl eingeladen worden, damit nicht eine reine Fachleutedebatte stattfinde. Man hatte uns vor der Sendung gebeten, unsere Argumente (wofür oder wogegen eigentlich?) in einem Kernsatz zusammenzufassen. Meiner lautete: »Selbstmördern kann man mit dem Tod nicht drohen.« (Als ich meinen Satz anbrachte, griff die Friedensaktivistin neben mir nach meiner Hand und drückte sie. Ich tat das gleiche mit ihrer Hand bei entsprechender Gelegenheit; ich spürte ihren Daumen über meinen Handrücken streichen, und das hatte mit

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