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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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trotzig an. »Wir beide hatten eine Auseinandersetzung, denke ich. An deren Ende mich Makoto fragte: ›Wer bin ich?‹ Und ich ihm antwortete: ›Genaugenommen nichts.‹«

Vierzehntes Kapitel
1
    Bei unserem letzten Spaziergang hinunter zum Lansersee dachte ich, er gefällt sich in der Rolle eines Mephisto.
    Er war überaus gut gelaunt gewesen, als wir das Haus verließen. »Sieh dir das an!« rief er. »Das ist mein Wetter, alles auf einmal!« Während des Frühstücks hatte Frau Mungenast die Fenster geöffnet, der Föhn kündigte sich in heftigen, warmen Streifen an; sie wußte, wie gern Carl und ich ihn mochten. Gegen die warme Luft vom Patscherkofel stemmte sich aber ein Schneewind von der Nordkette, und über unserem Haus trugen sie ihre Rauferei aus. Dazwischen schickte die Sonne ihre Spots, als wäre sie in der Rolle des Ringrichters. Carl hatte es eilig gehabt hinauszukommen. »Du wirst noch sehen«, sagte er, als ich ihn über den Weg nach unten zur Bahnlinie schob, »die Jahreszeiten, die Wetterstimmungen, der Regen, die Sonne, der Wind, der Schnee, die Wechsel, das alles gewinnt an Bedeutung mit dem Alter. Eigentlich müßte ich sagen, es findet erst seine wahre Bedeutung. Und manchmal scheint es, als habe alles andere keine Bedeutung mehr. Frag einen alten Mann nicht nach dem Wetter, du stürzt ihn damit in Verlegenheiten.«
    Er bat mich, bei der Bahnstation nicht nach rechts auf unseren Weg zum See zu gehen, sondern nach links am Wald entlang; erfahrungsgemäß sei dort die Schneise, die der Föhn vom Berg wähle, um sich in die Stadt hinabzustürzen und alle, die anders tickten als wir beide, verrückt zu machen. Der Föhn drückte gegen meinen Rücken, kippte aus dem Gleichgewicht, überließ seinem eisigen Bruder vom Norden das Feld, den hatten wir herankommen sehen als graue Schneewand, die uns für einen Augenblick in Düsternis hüllte, ehe sie von der Sonne und dem Föhn wieder abgedrängt wurde.
    »Wie hat dir die Geschichte gestern abend gefallen?« fragte Carl. »Wäre sie nicht eine Novelle für sich?«
    »Sie ist grauenhaft«, sagte ich.
    Plötzlich war es ruhig; war, als würden die Winde neuen Atem holen für den letzten Kampf, der entscheiden sollte, wer den Tag beherrschen würde, der Nord oder der Süd. Der Himmel öffnete sich, die Sonne wärmte meinen Nacken.
    »Laß uns dort vorne anhalten«, sagte Carl.
    Neben gefällten und entasteten Fichtenstämmen stand eine Bank. Ich stellte die Bremse am Rollstuhl fest und setzte mich.
    »Dreh mich bitte so, daß ich die Sonne im Gesicht habe«, sagte er. Er legte den Kopf in den Nacken, schloß die krausen, blassen Lider, die wie winzige Wirsingblätter aussahen. – Und nun erzählte er weiter, wo er am Vorabend geendet hatte:
    Von Makoto Kurabashis spektakulärem Selbstmord habe er im Juli 1960 aus Cousins’ Brief erfahren, einem Freitag. Einen Tag später war ich nach Innsbruck gekommen, um dort für ein Jahr bei ihm und Margarida zu bleiben. Sergeant Cousins lebte damals längst nicht mehr in Japan. 1952 hatten die Amerikaner ihre Truppen von der Insel abgezogen. Cousins, seine inzwischen wieder schwangere Frau Karen und seine beiden Söhne waren zurück nach Los Angeles gezogen – allein, ohne Makoto. Der habe sich, wie Cousins berichtete, besonders gut mit Karen verstanden; er sei so liebevoll hilfsbereit gewesen und habe sie mit Komplimenten überhäuft. Als Makoto noch nicht einen Monat bei ihnen gewohnt habe, habe sie zu ihrem Mann gesagt, sie sei anfänglich skeptisch gewesen, daß ein Fremder in ihre Familie aufgenommen würde, dazu einer, der einer anderen Rasse angehöre, deren Mitglieder eine verdächtig glatte Haut hätten und Kindergesichter und fast noch brutaler seien als die Deutschen; nun aber könne sie sich kaum mehr vorstellen, wie es ohne ihn wäre. Auch die Buben mochten ihn. Makoto spielte mit ihnen, nicht wie ein Erwachsener mit Kindern spielt, sondern wie ein Kind mit Kindern spielt. Sie schliefen zu dritt in einem Zimmer, und am Abend, nachdem das Licht gelöscht war, erzählte Makoto von dem kleinen Mann mit den Schaufelhänden, das war gruselig und schön. Er brachte den beiden ein paar Zahlentricks bei, mit denen sie in der amerikanischen Schule auf dem Areal von Atsugi Erstaunen und Neid ernteten. Die Familie wollte selbstverständlich, daß Makoto sie nach Los Angeles begleite; dort besaßen die Cousins’ ein großes Haus, er hätte sein eigenes Zimmer gehabt und hätte seine Studien an der UCLA

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