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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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sich gestritten.‹ Punktum.«
    »In diesem Fall kann ich die Geschichte nicht erzählen. Punktum.«
    »Natürlich kannst du sie erzählen!«
    »Ich werde sie höchstens in einem Nebensatz erwähnen.«
    »Nein, auf gar keinen Fall in einem Nebensatz! Was fällt dir ein! Die Geschichte soll ein breites Kapitel ausfüllen. Das muß sie! Das will ich! Das ist mein Wille. Wenn du es so ausgedrückt haben willst. Schreib: ›Das war sein Wille. Punktum.‹ Oder besser: Erfinde einfach etwas!«
    »Das ist nicht dein Ernst, das weiß ich.«
    »Du weißt alles. Du weißt, wann ich im Ernst rede und wann nicht, und du weißt, worüber sich Mathematiker streiten und in welcher Art und Weise sie es tun. Also wird dir auch einfallen, was du darüber schreiben sollst.«
    »Carl«, sagte ich, »ich bin doch nicht dein Feind.« Und dann sagte ich nichts mehr, bis wir unten beim See waren. Und er sagte auch nichts.
    Ich schloß das Gittertor auf und gleich wieder hinter uns zu, ich nahm mit dem Rollstuhl Anlauf und schob ihn durch den Schnee, der nach so vielen unserer Besuche zertreten und durch die Räder zerschnitten war, und schob ihn über den Aufgang zur Seeterrasse hinauf. Unter dem Dach des Cafés hob ich Carl aus dem Stuhl und ließ seinen Arm erst los, als er am Geländer festen Halt gewonnen hatte. So hatten wir es immer gemacht. Diesmal spulte ich die einzelnen Handgriffe betont routiniert ab, auch etwas grob, um ihm zu zeigen, daß ich gekränkt war wegen seines ruppigen Tons.
    Wir hatten beide recht: Es schneite, und es schneite zugleich nicht. Wir waren in Flocken gehüllt, aber auf der anderen Seite des Sees glitzerte das Wasser über der feinen Eisschicht, und die Sonne fiel satt auf das Schilf, die Halme steckten in Futteralen aus Eis. Carl atmete schwer und laut, und nach einer Weile hatte er sich gefaßt, und da hörte ich ihn sagen: »Lieber Gott, zeig mir den Weg, ich will ihn gehen!«
    Mir wurde übel. Ich ließ seinen Arm los und trat von ihm zurück und setzte mich auf die schmale Bank an der Wand des Cafés. Er hatte denselben Satz bereits gesagt, bevor ich ihn aus dem Rollstuhl gehoben hatte. Ich hatte ihn aber augenblicklich verdrängt. Weil ich dachte, er wird sterben, sobald er den Satz zu Ende gesprochen hat. Dem Zauberlehrling wird es im ersten Augenblick auch schlecht geworden sein, als er die Besen vor sich tanzen sah; mir war, als hätte ich den Tod von ihm ferngehalten, indem ich sein Kommen ignorierte.
    »Daß sich dein Vater das Leben genommen hat«, sagte er, »hätte ich verhindern müssen.«
    »Wie hättest du es verhindern können!« suchte ich ihn zu beruhigen. »Carl, wenn sich einer nichts vorzuwerfen hat, dann du. Du.«
    »Ich hatte eine böse Absicht, als ich dir die Geschichte von Makoto Kurabashi erzählte«, fuhr er schließlich fort. »Das sollst du wissen. Der Streit zwischen ihm und mir spielt keine Rolle, glaube mir, jedenfalls nicht der Gegenstand des Streits. Sicher, ich hatte ihn verletzt, und ich wollte ihn verletzen. Er war so arrogant geworden, hatte sich eine krude Welttheorie zusammengeschustert aus Shintoismus und Zahlenmagie. Er sei, sagte er, in der Lage, alles, was die Welt zu bieten habe, in einem neuen Zeichensystem zu formalisieren. Der Mann mit den Schaufelhänden habe viel dazugelernt. Anstatt zu beweisen, daß die Termen seiner Modulformen mit den Termen seiner elliptischen Gleichungen identisch sind, und zu begründen, warum sie es sind, hat er seinen wunderbaren Verstand mißbraucht, um ein Weihespiel aufzuführen, in dem er als eine Art Gottgesandter auftrat, durch den die Geister von Euklid, Leibniz, Gauß und Euler sprechen und der von allen anderen Menschen verlangen durfte, daß sie seine Zuträger seien. Die Studenten in seinem Institut, hieß es, würden ihn verehren, aber nicht wie das Sprachrohr von Euklid, Leibniz, Gauß und Euler, sondern wie die Reinkarnation von Amaterasu oder Susano oder wie diese Gottheiten heißen, ich mache keinen Witz, und, so wurde weiter berichtet, er lasse sich das nicht nur gefallen, sondern halte seine Vorlesungen tatsächlich in Form von Quasigottesdiensten ab, und das schlimmste: Offensichtlich gab es nicht einen am Institut, keinen Studenten, keinen Kollegen, der sich an die Stirn tippte und den Humbug als das bezeichnete, was er war, nämlich ein Humbug. Das war alles sehr lächerlich und sehr ärgerlich, aber letztlich auch so skurril, daß du darüber in deinem Buch nicht viele Worte verlieren solltest. Warum auch.

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