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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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meisten seiner Kommilitonen unverständlich gewesen, drei Stunden nichts anderes zu tun als »Mathematik zu reden«. Carl hatte lange Zeit nicht genug kriegen können von der »Erkundung des Zahlenuniversums«. Makoto hatte die Flamme in ihm wieder angefacht.
    Eines Tages – Carl war seit sechs Wochen in Tokio und hatte den Flugplatz Atsugi noch nicht ein einziges Mal verlassen – nahm ihn Sergeant Cousins am Arm und teilte ihm wie ein Geheimnis die Entscheidung seiner vorgesetzten Stelle mit, daß er bis auf weiteres in Japan stationiert bleiben werde. »Ich werde meine Familie herüberholen. Es ist bereits alles abgesprochen. Wir werden in einem der Blocks wohnen, die unsere Leute bauen werden. Ich habe die Pläne gesehen. Praktisch, einfach und hell. Irgendwann werden die Buben dafür dankbar sein, daß es ihnen mein Job ermöglicht hat, für eine gewisse Zeit den Pazifik von der anderen Seite zu sehen, auch wenn sie jetzt heulen.«
    Carl fragte, warum er ihn für diese Mitteilung beiseite genommen habe, das hätte doch jeder andere genauso erfahren dürfen, Makoto zum Beispiel, man wisse doch schon lange, daß die Amerikaner Truppen in Japan stationieren werden.
    Ohne Carl anzusehen, antwortete Cousins: »Sie haben recht. Ich habe hinter Ihrem Rücken gehandelt. Das war nicht fair. Aber eigentlich sind Sie hier gar nicht existent. Sie können Ihren Koffer packen und jederzeit gehen. Ich kann das nicht. Das hier sind militärische Angelegenheiten. Bilden Sie sich nicht ein, Ihre Welt habe mit der meinen irgend etwas gemeinsam. Wir hier schnapsen alles untereinander aus. Hiermit, Mr. Candor, setze ich Sie davon in Kenntnis – obwohl ich das nicht müßte –, daß meine Frau und ich über meine Vorgesetzten den Antrag gestellt haben, Makoto Kurabashi zu adoptieren. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird der Antrag angenommen. Makoto wird bei uns wohnen. Eine Familie. Meine Buben, meine Frau, Makoto und ich.«
7
    Carl: »Cousins und ich vereinbarten, daß Makoto die Ausbildung bekommen sollte, die er sich wünschte, egal, was es koste. Mein Teil war es zu bezahlen. Außerdem ließ ich mir von Cousins unterschreiben, daß er mir viermal im Jahr ausführlich berichte, wie es um Makoto stehe, und daß er, sollte etwas Außergewöhnliches vorfallen, mich unverzüglich davon in Kenntnis setze. Ich verließ Japan. Cousins hat sich an unsere Abmachung gehalten. Makoto holte im Eiltempo alle seine Prüfungen nach und begann bereits im Herbst 1946 mit seinem Studium der Mathematik an der Kaiserlichen Universität in Tokio. In der kürzest denkbaren Zeit schloß er ab und bekam eine Stelle erst als Assistent, später als Dozent. Cousins hatte mich gebeten, mich nicht mit Makoto in Verbindung zu setzen, er befürchtete, der Junge werde in einen Konflikt stürzen, wisse zuletzt womöglich nicht, wohin er gehöre. Ich habe das akzeptiert. Ich habe Makoto fast zehn Jahre lang nicht gesehen. 1955 traf ich ihn auf dem Mathematikerkongreß in Tokio. Er war die Sensation der Tagung. Alles drehte sich um eine seiner Theorien.«
    Aus purem Instinkt heraus habe er, referierte Kurabashi bei dem Kongreß, die Terme der Reihe einer bestimmten Modulform mit den Termen der Reihe einer bestimmten elliptischen Gleichung verglichen und festgestellt, daß diese identisch waren. Er berechnete weitere Reihen und fand jedesmal identische Entsprechungen. Warum die beiden Objekte, die von entgegengesetzten Enden der Mathematik herstammten, eine Korrelation aufwiesen und worin diese ursächlich bestand, konnte er nicht sagen. An immer neuen Reihen von Modulformen und elliptischen Gleichungen hatte er seine Berechnungen angestellt, und immer war seine Vermutung bestätigt worden: M-Reihe und E-Reihe waren identisch. Die Vermutung einer Beziehung zwischen der modularen und der elliptischen Welt, mit schüchterner Selbstgewißheit von diesem jungen japanischen Wissenschaftler vorgetragen, der auch gar keinen Hehl daraus machte, daß diese Idee seiner Intuition entsprungen war, führte zu heftigen Auseinandersetzungen während des Symposions. Jede weitere Demonstration versetzte zwar jedesmal aufs neue alle Anwesenden in Erstaunen; eine Vermutung aber sei, belehrte uns Carl, vom Beweis – und nur darauf komme es in der Mathematik an – ebenso weit entfernt wie der Traum der Nacht von der Wirklichkeit des Tages.
    Carl sprach dabei hauptsächlich zu Frau Mungenast hin. Nach dem Essen hatte er sie gebeten, sich zu uns zu setzen.
    Das

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