Abendland
kann mich nicht erinnern, daß Carl auf mich geistesabwesend gewirkt hätte oder in irgendeiner Weise verwirrt oder aufgewühlt. Im Gegenteil. Nach dem, was bei uns zu Hause los war, vor allem, was in den vorangegangenen Monaten los gewesen war, empfand ich die Atmosphäre in der Anichstraße auf angenehmste Weise entspannt. Meinetwegen hätte niemand etwas sagen müssen, und niemand hätte mir zuhören müssen, und wenn ich plötzlich verstummt war, dann weil mir klargeworden war, was für eine Last das Reden ist. Ich war in den dauerhaften Frieden eingekehrt. So sah ich das.
Ich fragte ihn, ob er mir schildern wolle, was weiter in ihm vorgegangen sei, nachdem er den Brief von Sergeant Cousins gelesen und die Bilder in den Zeitungen gesehen habe. Er dachte lange nach – so lange, daß ich wieder einmal meinte, er sei auf dem Strom seiner Gedanken aus der Welt gedriftet und nehme gar nicht mehr wahr, was um ihn herum vor sich gehe.
»Nichts weiter«, sagte er endlich. »Ich habe mir jedenfalls nicht die Schuld daran gegeben, falls du das meinst. Ich habe versucht, ihn zu vergessen.«
»Und ging das?«
»Es ging sogar sehr schnell. Zum Glück bin ich ein Unmensch. Außerdem: Du warst ja bei uns. Du hast unser Leben verändert, Sebastian, meines und auch Margaridas Leben. Weißt du das? Meines hast du vielleicht sogar gerettet.«
Ich wollte darauf antworten, dies sei eine Last, die ich nicht tragen könne; der Einwand wäre einundvierzig Jahre zu spät gekommen – damals hatte ich die Last offensichtlich tragen können, nur hatte ich nichts davon gewußt.
»Aber doch nicht wegen eines mathematischen Problems habt ihr gestritten?« sagte ich.
»Wer hat sich gestritten, Sebastian?« fragte er, eine Veränderung zum Spitzen hin war deutlich. Ich ahnte, daß wir beide uns gleich streiten würden.
»Du und dieser junge Mann.«
Carl hielt die Hand über die Augen, ein zusammengeschobener transparenter weißer Fächer, und blinzelte mich an. »Natürlich wegen eines mathematischen Problems. Weswegen sollten wir sonst streiten?«
»Und er hat jeden Kontakt zu dir abgebrochen? Bis zu seinem Tod?«
»Auf ewig, würde ich sagen.«
»Wegen einer Meinungsverschiedenheit mathematischer Natur?«
»Aber ja.«
»So etwas tut doch kein Mensch!«
»Du weißt das, stimmt’s?« Und damit war seine gute Laune erledigt.
»Du willst, daß ich über dich schreibe«, lenkte ich ein, bemühte mich um einen versöhnlichen Ton. »Deswegen bin ich hier, Carl. Ich will mein Bestes geben.« Ich stand auf und löste die Bremse, drehte den Rollstuhl um und schob ihn auf den Weg zurück, der an den Geleisen entlangführte. Der Wind sprang uns aus allen Richtungen an, wirbelte Schnee um uns, und doch waren unsere Gesichter in der Sonne. »Du hast mir dieses erschreckende Video gezeigt. Du hast mir die traurige Geschichte dieses jungen Mannes erzählt. Ich weiß nun, daß du dich um ihn gekümmert hast, daß du zurückgesteckt hast gegenüber diesem Sergeant, daß du dich selbstlos um diesen jungen Mann gekümmert hast …«
»Keine Sentimentalitäten!« fuhr er mir ins Wort. »Und sag nicht dauernd ›dieser junge Mann‹! Er hat einen Namen. Und ›dieser Sergeant‹ hat ebenfalls einen Namen. Hast du sie dir nicht notiert? Tu es jetzt! Du hast doch dein kluges Heft bei dir. Schreib die Namen auf!«
»Ich habe die Namen aufgeschrieben, als du sie zum erstenmal genannt hast. Ich habe dich gefragt, wie man sie schreibt, und du hast sie mir diktiert. Hast du das vergessen?«
»Sprich nicht mit mir wie mit einem Schwachsinnigen!« Er klammerte sich an den Lehnen fest und richtete sich auf. »Warum sind wir nicht sitzen geblieben, wo wir waren? Dort war es doch schön! Es hat angenehm nach Fichtenrinde gerochen. Ich kann es mir nicht leisten, auf solche Sinneseindrücke zu verzichten. Was gab es an diesem Platz auszusetzen? Du hältst es nicht lange an einem Ort aus, das ist dein Problem, Sebastian. Wohin schiebst du mich? Ich will nicht nach Hause! Fahr mich jetzt ja nicht nach Hause! Ich will zum See hinunter, hörst du! Wo fährst du mich hin?«
»Wenn du es wünschst, fahr ich dich zum See hinunter. Es wird aber gleich heftig zu schneien beginnen. Wenn es dich nicht stört, mich stört es nicht.«
»Es wird nicht schneien.«
»Versuch’ dich bitte zu erinnern, worum es bei dem Streit ging!«
»Es ging um ein Problem der Zahlentheorie, das du ohnehin nicht verstehen würdest. Also, was soll’s! Schreib einfach: ›Sie haben
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