Abendland
Veränderung in Makotos Wesen beobachtete, hätte wohl eine parat gehabt: Makoto ist, wie sich Sergeant Jonathan S. Cousins wünschte, daß seine Söhne eines Tages werden. Cousins nannte ihn auch »mein Sohn«. Daß Makoto eine »komplizierte Rechenmaschine« sei, wollte er nie gesagt haben. Wie Carl nur auf so einen Ausdruck komme! »So falsch ist der Ausdruck gar nicht«, entgegnete Carl kleinlaut.
Nur wenn Makoto mit ihm zusammen war – daran zweifelte Carl nicht einen Augenblick –, war er er selbst. Sie spazierten von den Baracken zum Stacheldrahtzaun am Ende des unbenutzten, vom Unkraut aufgerissenen Teiles der Landebahn, spazierten weiter am Zaun entlang bis zum äußersten Wachposten (hier stank es nach dem Müllhaufen auf der anderen Seite des Zauns; die Soldaten hatten aus Jux eine Art mittelalterlicher Schleudervorrichtung gebaut, mit deren Hilfe sie den Abfall der 11. Luftlandedivision nach draußen beförderten); kehrten um und gingen den gleichen Weg zurück. Das waren zusammen knapp drei Kilometer unter dem immer gleichmäßigen Stahlglanz des Himmels; meistens gingen sie die Strecke dreimal hintereinander. Sie sprachen über nichts anderes als über Zahlen – »Erkundung des Zahlenuniversums« nannte es Carl, als wäre der Vormittag Schulunterricht mit nur einem einzigen Fach. Makoto gab sich in Carls Gegenwart weder verspielt wie bei den Soldaten noch als der Haudegen wie bei Cousins; er war bescheiden, selbstbewußt, in seiner Art zu sprechen präzise und sachlich – erwachsen. Und brillant! Carl erzählte ihm von Hilberts Problemkatalog von 1900 – in Erinnerung, daß die Ambition, wenigstens eines dieser Probleme zu lösen, einst den Ausschlag gegeben habe, daß er selbst Mathematik und nicht Ornithologie studiert hatte. Manchmal blieben sie stehen, weil Carl mit einem Stück gelber Kreide das Koordinatensystem oder irgendwelche Gleichungen auf den Asphalt malte. Er merkte bald, daß er Makoto Anspruchsvolles zumuten durfte. Eines Tages hielt er ihm einen zweistündigen Vortrag über die Riemannsche Landschaft und deren Nullstellen, dieses merkwürdige imaginäre Bergmassiv, auf dessen höchstem Gipfel das Geheimnis der Primzahlen verwahrt war. Wie es schien, hatte er damit genau Makotos Interesse getroffen – »Interesse« war natürlich ein viel zu schwaches Wort, Makoto war süchtig nach diesen Kernbausteinen der Mathematik. (Erst viel später kam Carl der Gedanke, daß Makoto vielleicht nur die Begeisterung seines Lehrers reflektiert und verstärkt hatte – wäre es nicht ein höchst merkwürdiger Zufall gewesen, wenn diese manische Fixierung auf die Primzahlen sie beide betroffen hätte? –, daß Makoto also lediglich ein bereitwilliger Spiegel gewesen war und er, Carl, in ihm, dem übertalentierten Chamäleon, nur sich selbst gesehen hatte, allerdings ins Monströse überzerrt. Damals hatte ihm Makoto noch nicht von den Zahlenfeldern erzählt, die er vor sich sah, wenn er die Augen schloß, und natürlich auch nicht von dem kleinen Mann mit dem Helm und den Schaufelhänden, der für ihn die tingeltangelhaft rasanten Multiplikationen und Divisionen durchführte, sozusagen als lockere Freizeitbeschäftigung zwischen seinen gedankenschnellen Läufen zum unendlich weiten Horizont seines Weltkreises, dabei alle Zahlen markierend, die durch eins und durch sich selbst und sonst durch nichts geteilt werden können, in der verrückten Hoffnung, irgendwann einen Algorithmus zu finden, der ein Schlüssel wäre, der in alles, in alles paßte. Diese Landschaft, erzählte er Carl zehn Jahre später während eines Kongresses, habe sich durch Carls Erläuterung der Riemannschen Vermutung zu einem Gebirge gehoben, und zwar innerhalb weniger Minuten.) Daß er ihm nicht ebenfalls nur etwas vormachte, schloß Carl aus der Tatsache, daß Makoto Sergeant Cousins belog, als dieser ihn einmal fragte, was sie beide denn bei ihren vormittäglichen Spaziergängen redeten. Makoto sagte: »Jake hat mir von seiner Kindheit in Wien erzählt und ich ihm von meiner Kindheit hier.« Nicht ein Wort in dieser Richtung war jemals zwischen ihnen gefallen. Ohne daß sie es ausgesprochen hätten, waren sie sich einig, daß ein Mann wie Cousins es nicht zu verstehen vermochte , daß es eine Lust war, über Zahlen zu sprechen und dabei keinen Gedanken über den Gebrauch außerhalb ihrer selbst aufzubringen. Carl erinnerte sich an die Spaziergänge mit seiner Professorin Emmy Noether in Göttingen; auch damals war es den
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