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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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retten, sondern daß es kein Thema gab, dem es gelingen könnte, abzuwehren oder wenigstens hinauszuschieben, was in der Dramaturgie seines Abschieds an dieser Stelle vorgesehen war.
    »Darüber möchte ich mit dir heute abend sprechen: über unseren Frühling 1961 in São Paulo und in Lissabon. Und dabei stört Frau Mungenast.«
3
    Am 12. März 1961 gegen siebzehn Uhr brasilianischer Zeit dachte ich zum erstenmal, Carl sei der Teufel; das Datum läßt sich leicht anhand meiner Tagebuchhefte bestimmen.
    Ich war zehn Jahre alt. Was durch die Jahrhunderte über die Hölle buchstäblich zutage gefördert worden war, das hält ein unschuldiger kleiner Heide, auch wenn er alles für möglich hält, natürlich nicht für möglich; und wäre mir Einblick in dieses Dossier gewährt worden, selbstverständlich hätte ich nicht einen Augenblick lang meinen lieben Carl für eine Aufsichtsperson an diesem Ort gehalten – als eine solche stellte ich mir den Teufel vor: die Verdammten waren seine Gefangenen auf ewig, nicht einmal der Tod konnte sie von ihm scheiden, denn dort unten wurde nicht mehr gestorben; nur daß der Teufel nach meinem Begriff die ihm Anvertrauten nicht zusätzlich noch mit eigenen Inspirationen folterte, sondern sie bloß bewachte, auch über sie wachte, sie auf seine Art sogar beschützte. Verstört war ich, als er mir am Ende seines Lebens beichtete, was ausgerechnet in jenen Tagen, ja, besonders in jener Stunde sein Hauptgedanke gewesen war – die fixe Idee, die ihn wie in einem »furchtbarlich« flammenden Gefängnis hielt – nämlich: der kaltblütige Plan eines Mordes.
    Es war nicht das erste Mal während meines Besuchs, daß für einen Augenblick das Ambiente in Carls Wohnung wie in einem Vexierbild sich auf surreale Weise neu ordnete – das Samtsofa, auf dem ich lag, in dem plötzlich die Schwerkraft um ein Vielfaches zu wirken schien, Carls grüner Ledersessel, der sich in den Kelch einer fleischfressenden Pflanze verwandelte, das rußige, mit angekohlten Scheiten bezahnte Maul des Kamins, auf dessen Sims wie auf der Lippe die Belege bereitlagen, mit deren Hilfe Carl sparsam, aber effektvoll sein Leben illustriert hatte (Leopardis Zibaldone , der Brief seines Vaters, die Abschrift des Tonbandinterviews von Karls Tante Kuni Herzog, das Videoband, auf dem Makoto Kurabashis Selbstmord zu sehen war); ein flash , dessen Nadelstiche ich bis in die Fingerspitzen spürte – und ich uns beide von außen betrachtete, als wäre ich aus der Szene – weit schlimmer! –, als wäre ich aus unserer gemeinsamen Geschichte, aus meiner Person herauskatapultiert worden. Obwohl seine Hinfälligkeit so offenkundig war, besonders in den Stunden, wenn das Morphiumpflaster allmählich seine Wirkung verlor, spannte sich in mir alles an, als befände ich mich in äußerster Gefahr – einer hinterhältig selbstbezüglichen Gefahr, weil sie zur Hälfte von mir selbst ausging und in meinem Teil darin bestand, daß sie von mir selbst nicht zu berechnen war. In solchen Momenten war mir Carl auf eine metaphysische Art fremd und abstoßend. In seinem Gesicht bemerkte ich Züge, die ich entweder vergessen hatte oder die sich mir für gewöhnlich nicht zeigten. Aufgedunsen schien er mir, altweibisch, ungepflegt, das gelbliche Haar wie angeklebt, die Haut überempfindlich, entzündlich; seine wäßrigen blauen Äuglein blickten verschwörerisch schlau und zugleich dumpf; der Mund, durch das mangelhaft sitzende Gebiß entindividualisiert, war gespenstisch starr. Er hat mir, seiner Frau, unserer Familie immer etwas vorgeführt, ein Leben gleichsam als ein Experiment. Soviel Arbeit, um als ein anderer zu erscheinen! Aber warum? Es stand ihm ins Gesicht geschrieben: Weil wir ihn, den Fehlerlosen, sonst nicht aufgenommen hätten. Fehlerlos war in seinem Fall gleichbedeutend mit: nicht teilhabend am menschlich Fehlbaren – was neben den bekannten Mißlichkeiten auch Mitleid, Vergebung, Vergessen beinhaltet. Ein Dorian Gray, der das grausige Bildnis, das die Wahrheit zeigt, nicht in einer verriegelten Kammer seines Hauses versteckt hielt, sondern unter einer zweiten, gleichsam angelernten Haut trug – manchmal schimmerte die Wahrheit durch. Aber was war die Wahrheit? Robert Lenobel würde sagen: Das, was du unter seine Haut projiziert hast; er war alles, was du wolltest; du hast ihm seine Rolle geschrieben. Und er würde mir einen Vortrag halten über das ihn immer aufs neue in Erstaunen versetzende Phänomen der psychischen

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