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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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ich in mein Tagebuchheft: »In 168 Stunden«, »in 167 Stunden«, »in 166 Stunden« und so fort, bis zu »in 158 Stunden«, als wir zur Landung auf dem Flughafen in São Paulo ansetzten. Wobei ich nicht vergessen hatte, die Zeitverschiebung zu berücksichtigen; Margarida hatte mir über dem Globus in Carls Arbeitszimmer (das übrigens eine ziemlich genaue Kopie seines Arbeitszimmers in Innsbruck war, das wiederum seinem Arbeitszimmer in Wien sehr ähnlich sah) erklärt, daß wir uns beim Hinflug vier Stunden ausborgen würden, die wir beim Retourflug wieder zurückgeben müßten. Ich wollte sie fragen: Von wem ausborgen? Drei Monate zuvor, in Innsbruck, wäre die Frage noch zulässig gewesen, nun, in Lissabon, nicht mehr. Ich fragte: »Und was wäre, wenn wir nicht auf der gleichen Route zurückfliegen, sondern um die Welt herum und von der anderen Seite wieder nach Lissabon kommen?« Das könne mir sicher Carl beantworten, sagte sie. Es wäre während unserer Zeit am Himmel tatsächlich ein gutes Thema gewesen; es hätte sich daraus eines jener Frage-Antwort-Spiele ergeben können, die ich so sehr geliebt und die er, wie ich doch glaubte, ebenfalls genossen hatte. Ich kam zur Auffassung, daß mit dieser Reise die Zeit für solche Spiele vorbei sei, daß ich nun ein Erwachsener sei oder eine Art Vor-Erwachsener, jedenfalls einer, der sich Respekt nicht mehr allein dadurch verschaffen durfte, daß er kluge Ideen für kluge Spiele hatte. Als Kind war ich ein Gewinn und eine Freude gewesen, hatte überraschende Antworten auf schwierige Fragen und nicht minder überraschende Fragen zu den komplexesten Materien gewußt; als »Erwachsener« war ich unter Niveau. Zwei wirkliche Erwachsene hätten sich nicht ernsthaft über Zeitverschiebung unterhalten, so war meine Einschätzung vom Zustand des Erwachsenseins, dem ich mich merkwürdigerweise zu Hause in Wien bei meinen wirklichen Eltern spätestens seit dem Eintritt in die Schule zugerechnet hatte – in jedem Fall widerwillig allerdings, denn dieser Zustand bürdete mir eine unwirkliche Verantwortung auf, die mich nicht sein ließ, der ich war –, den ich nun zwar nicht an der Seite meines wirklichen Vaters, dafür aber in der »wirklichen Welt« als ein für mich nicht erfüllbares Ziel erkannte, auf das ich mich nicht anders als in einem Als-ob zubewegen konnte, listig, vorsichtig, hinterlistig, schlau – diese Eigenschaften mußten aber erst erlernt werden. So saßen Carl und ich im Flugzeug nebeneinander und sagten die meiste Zeit nichts, und ich versuchte mir ein Bild zu machen, wie ich mich in seinen Gedanken wohl darstellte. Seit wir in Portugal waren, hatte er mir nicht eine einzige Geschichte erzählt; in Innsbruck war das Erzählen strenges Abendprogramm gewesen, die Geschichten mit den verwegenen Namen, die viel mehr zu berichten hatten als die Geschichte selbst. In Lissabon hat er mich auch nicht zu sich gerufen, damit ich mich in den Lehnstuhl setze und mir ein Musikstück anhöre. Und womit er in Innsbruck begonnen hatte, nämlich mir zu erklären, wie ein gewisser Giuseppe Peano die gesamte Mathematik auf drei Grundbegriffe und fünf Grundsätze zurückgeführt habe, das hatte er in Lissabon nicht fortgesetzt, und das lag nicht an mir, ich hatte mich gar nicht so dumm angestellt. Oder vielleicht doch? Ich vermutete, es gab nur eine Sache, worin er mich bewunderte, nämlich das Fischen. Wir waren einmal an einem Bach in einem Tiroler Bergdorf gewesen, Carl, Margarida und ich, ich weiß nicht mehr, wo das war, auf jeden Fall hatte ich mit bloßen Händen eine Forelle unter einem Stein herausgeholt, hatte ihr fachmännisch das Rückgrat gebrochen, indem ich ihr mit dem Finger ins Maul fuhr, hatte sie mit meinem Taschenmesser aufgeschlitzt und ausgenommen und die Filets auf einen Stein gelegt, den wir vorher im Feuer erhitzt hatten, sie mit einem Tuch abgedeckt, nach vier Minuten umgedreht, mit Pfeffer und Salz gewürzt und den Anwesenden zum Verspeisen angeboten. Das hatte ich gelernt, als ich ein Jahr zuvor in einem Ferienlager der Kinderfreunde im Waldviertel gewesen war. Carl hatte mich mit einem neuen Blick angesehen, und während wir mit den Fingern kleine Brocken von den Gräten zupften, war er mir ziemlich kleinlaut erschienen.
    Das Hotel in São Paulo war ein moderner Bau mit einer wahrhaft riesenhaften Lobby, in die man spielend eine Tiroler Dorfkapelle samt Turm hätte stellen können. Man befand sich in ihr wie im Inneren eines gigantischen

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