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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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daß von ›stehen‹ also nicht die Rede sein kann. Ich denke aber, es klingt gut, wenn es heißt: ›Noch mit fünfundneunzig interessierte er sich für die Tagespolitik.‹ Oder klingt das gerade nicht gut? Ich weiß es nicht. Was meinen Sie? Respektiert man einen Greis mehr, wenn er schon halb weg ist oder wenn er sich händelsüchtig in die Gegenwart verkrallt? Ich weiß es wirklich nicht. Sie müssen mir helfen! Sie basteln an einem Nachruf über mich. Nein, nein, das braucht Ihnen nicht unangenehm zu sein. Wann sollten Sie denn Material für einen Nachruf zusammentragen? Wenn ich tot bin? Wenn ich tot bin, wenden Sie sich an Herrn Lukasser. Er weiß alles über mich. Er wird auch die Frage klären, wie ich zur gegenwärtigen österreichischen Regierung gestanden bin. Diesen Gefallen wirst du mir und Frau Brugger doch tun, nicht wahr, Sebastian?«
    »Aber selbstverständlich, Carl«, kumpelte ich zu ihm hinüber, drückte beide Augen fest zu und schürzte die Lippen.
    »Gib Frau Brugger deine Adresse, Sebastian! Damit sie sich nach meinem Tod mit dir in Verbindung setzen kann. Und Sie, liebe Frau Brugger, schreiben Ihre Telefonnummer in dieses Heft. Herr Lukasser wird Sie nach meinem Ableben verständigen. Ihr beide müßt euch austauschen, unbedingt!«
    An dieser Stelle erhob sich Frau Mungenast und ging hinaus und warf hinter sich die Tür ins Schloß, daß es krachte.
    Nachdem sich Frau Brugger verabschiedet hatte, sagte ich zu Carl: »Gib mir die Nummer von Frau Mungenast! Ich will sie anrufen. Damit sie zurückkommt.«
    Er lachte hämisch, künstlich hämisch, als ob er bloß ein Lachen zitiere. »Warum denn? Ich möchte sie heute abend nicht hier haben. Ich habe heute abend mit dir Dinge zu besprechen, und ich wünsche niemanden außer uns beiden im Haus. Du wirst sie nicht anrufen! Sie wird schmollen, und morgen um halb sieben wird sie mit frischen Semmeln vor der Tür stehen. Sie ist eifersüchtig. Sie hat sich in dich verliebt, Sebastian! Das ist komisch! Jawohl, das nenne ich Komik!«
    »Was soll daran komisch sein. Wir beide sind etwa im gleichen Alter. Ich gefalle ihr, und sie gefällt mir auch.«
    »Daß du dich in deinem Zustand in eine Krankenschwester verliebst, liegt auf der Hand, obwohl ich dir eine solche Trivialität nicht zugetraut hätte. Aber wollen wir wetten, wenn du erst über dem Berg bist, wirst du dich daran erinnern, daß diese in jeder Hinsicht vortreffliche Frau Brugger vom ORF ihre Telefonnummer in dein Heft geschrieben hat. Ist es nicht vernünftiger, mit dieser Frau etwas anzufangen, es wenigstens zu versuchen, als sich auf lindernde Krankenschwesterhände zu kaprizieren. Und vor allem: Es ist bestimmt vernünftiger, Frau Brugger anzurufen und sich zum Beispiel irgendwo auf halbem Weg zwischen Innsbruck und Wien mit ihr zu verabreden – warum nicht in Salzburg im Österreichischen Hof ? –, als weiter mit einer Frau zusammenzusein, die es neben dir mit zwei anderen Männern treibt, und dazu noch gleichzeitig. Frau Brugger vom ORF würde deinen Heilungsprozeß rasant beschleunigen. Ich meine ja nicht, daß du für immer mit ihr zusammenbleiben sollst. Nicht für immer, nicht einmal für länger. Sie ist viel zu jung für dich. Sie würde dich genauso betrügen früher oder später. Außerdem: Was hat sie an deiner Seite zu suchen? Du brauchst ein wenig Hilfe für einen Neustart, und die kann sie dir bieten. Die will sie dir bieten. Mehr will sie dir nicht bieten. Mehr sollst du von ihr nicht erwarten.« – Er erklärte mir auch – ungefragt –, wie seiner Meinung nach ein Neustart für mein Leben aussehen sollte. Ich sollte nach dem kleinen Abenteuer mit Frau Brugger vom ORF nach Frankfurt fahren und mich um meine Familie kümmern. – »Es war ein Fehler, daß ihr euch getrennt habt. Man muß einen Fehler gutmachen. Er macht sich nicht von alleine gut. Auch in zwanzig Jahren nicht.«
    Ich ging darauf nicht ein. »Worüber willst du mit mir heute abend sprechen?« fragte ich. »Wobei stört Frau Mungenast?«
    Erst schickte er mir einen wütenden Blick zu; nach einer Verschnaufpause, die wirklich eine solche war – ich meinte, er begänne gleich zu hyperventilieren –, nahm er resigniert meine Frage auf: »Erinnerst du dich an den März 1961, als wir beide von Lissabon nach São Paulo geflogen sind?«
    »Wie könnte ich das vergessen haben?«
    Kein Zweifel, woraus seine Resignation erwuchs: Nicht aus der Einsicht, daß es ihm nicht mehr gelingen würde, meine Familie zu

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