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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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war; Frau Mungenast hatte sich in die andere Ecke gedrückt, die Arme verschränkt wie ein trotziges Mädchen, das sich weigert, sich zu entschuldigen. Ich nahm mir einen Sessel vom Eßtisch und rückte ihn neben sie.
    Frau Brugger notierte und fragte, der Block auf ihren Knien hatte schon einen beträchtlichen Schopf aus vollgeschriebenen Seiten bekommen. Als ich Kaffee in ihre Tasse schenkte, fragte sie gerade: »Befassen Sie sich mit der gegenwärtigen politischen Lage?«
    »Aus der Ferne«, antwortete Carl. »Nur aus der Ferne.«
    »Wie darf ich das verstehen?«
    »Ich meinem Alter sieht man alles aus der Ferne. So dürfen Sie es verstehen.«
    »Und wie sieht die gegenwärtige politische Situation in Österreich aus der Ferne aus?«
    »Österreich hat Glück, daß es im großen und ganzen keine Rolle spielt.«
    »Was wäre sonst?«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Was wäre, wenn Österreich international eine Rolle spielte?«
    »Sie übersetzten ›im großen und ganzen‹ mit ›international‹?«
    »Wie würden Sie es übersetzen?«
    »Sie haben das sehr gut übersetzt. Ich rede ungenaues Zeug. Sie präzisieren. Was verstehe ich unter ›eine Rolle spielen‹? Schlagen Sie etwas vor, liebe Frau Brugger!«
    »Die USA spielen eine Rolle, Rußland spielt eine Rolle, Deutschland, Frankreich, England, China spielen eine Rolle. Sogar die afrikanischen Staaten spielen eine Rolle, die Opferrolle. Israel spielt eine Rolle, die Palästinenser spielen eine Rolle.«
    »Ein einziges großes Welttheater.«
    »Fragen Sie sich manchmal, wer das Stück geschrieben hat, Professor Candoris, und wer Regie führt?«
    »Nein, das frage ich mich nicht. Das ist eine Frage, wie sie jemand stellt, der versucht, sich in einen sehr alten Mann hineinzudenken und hineinzufühlen, jemand, der sehr jung ist. Gilbert Keith Chesterton sagte einmal, er bewundere über alle Maßen einen Menschen, der sich sein Leben lang von jeder Handlung fernzuhalten vermag und dennoch Einfluß ausübt. Können Sie damit etwas anfangen? Es wäre doch ein schönes Motto für Ihre Sendung.«
    Sie schrieb den Satz auf. Carl wiederholte ihn geduldig und mit Gefallen und buchstabierte, ohne daß sie ihn darum gebeten hätte, Chestertons Name.
    Ich mischte mich ein. »Frau Brugger, denke ich, will wissen, wie du zu unserer schwarz-blauen Regierung stehst, Carl. Hab’ ich recht?«
    Sie antwortete nicht, blickte Carl an und mich nicht, blickte ihn an aus bestürzend leichtgläubigen Augen. Ich war gar nicht anwesend. Frau Mungenast und ich waren nicht anwesend. Ich schenkte Frau Mungenast und mir Kaffee nach und versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, wenn sie an meine Tür klopfte und unter meine Decke schlüpfte und die Textilien zwischen ihrer Haut und meiner Haut nach oben und unten schöbe – so wie ich es mir in der vorangegangenen Nacht vorgestellt hatte.
    Ich ließ nicht locker. »Was du von den Sanktionen der EU hältst, Carl. Ich glaube, das will Frau Brugger wissen. Und ob du der Meinung bist, daß Jörg Haider und seine Partei außerhalb des Verfassungsbogens stehen, zum Beispiel. Oder: Für wie groß du den Schaden für Österreich hältst, weil diese halbbekennenden Nazisprößlinge Ministerämter bekleiden. Oder: Du, als ehemaliger Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika: ob du dafür bist, daß über Bundeskanzler Schüssel ein Einreiseverbot in die USA verhängt wird wie bei Waldheim.«
    »Das wollen Sie wirklich wissen?« fragte er Frau Brugger vom ORF.
    Sie antwortete nicht, hielt aber seinem Blick stand und drückte die Kulispitze auf ihren Block, eine kleine Geste, die besagte, daß hier unter anderem auch Karriereschritte getan wurden.
    »Gut«, sagte er. »Was für eine Antwort können Sie für Ihre Arbeit brauchen?«
    »Jede.«
    »Aber was für eine Antwort wünschen Sie sich?«
    »Ich verstehe nicht, wie Sie das meinen.«
    »Ich meine: Was für eine Antwort würde am besten zu Ihrem Konzept passen? Es soll ja ein gelungener Film werden. Welche Antwort würde am elegantesten rüberkommen?«
    »Damit Professor Candoris am besten dasteht«, übersetzte ich.
    »Um Gottes willen«, verwahrte sie sich, »so geht das nicht, bitte!«
    »Aber doch, ich hätte gern, wenn Sie mich bei diesen Fragen beraten«, sagte Carl ruhig und ohne das leiseste Anzeichen von Provokation in seiner Stimme. »Herr Lukasser hat recht: Ich möchte gut dastehen. Obwohl ich ja davon ausgehe, daß ich nicht mehr am Leben sein werde, wenn die Sendung ausgestrahlt wird, so

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