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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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würde damit das Geschehene wieder heraufbeschwören und beim zweitenmal darin untergehen. Die Stelle liest sich wie ein verschlüsselter Hilfeschrei auf einem Kassiber, so verschlüsselt allerdings, daß niemand anderer etwas damit anfangen könnte. Sicher, ich war ein Bub, der gegen Bilderfluten zu kämpfen hatte wie Odysseus gegen das Meer, aber ein verschwärmter, gar mit divinatorischen Fähigkeiten ausgestatteter Geist war ich nicht – meine Mutter, die mir vielleicht nicht sehr nahe stand, mich aus ihrer Ferne aber doch präzise abschätzen konnte, hat mich mit Gewißheit nicht für einen Träumer oder Spinner oder einen Verrückten gehalten, sonst hätte sie mich erbarmungslos einen solchen gescholten; und Carl, als ich ihm im Alter von zwanzig Jahren eröffnete, daß ich Schriftsteller werden wolle, begründete seine Zweifel daran damit, daß er mir zuwenig imaginative Kraft zutraute: zwei gewichtige Zeugen für meine diesseitig nüchterne Grundhaltung, die ich betonen muß, bevor ich die folgende Begebenheit berichte (die ja nur die Vorgeschichte zu der Geschichte ist, die mir Carl an diesem Abend – unserem letzten – erzählte). Mein Vater freilich hielt mich für einen weltfremden Narren, aber er behauptete ja auch über sich selbst, er sei ein granitharter Realist. Und um die Familie vollständig vorzuführen: Margarida gewichtete uns beide – sich selbst und mich – in die Mitte; wir beide waren für sie die Normalen in diesem unvergleichlichen Verband; und ich denke, sie hatte recht damit.
4
    Vom 8. bis 13. März 1961 fand in São Paulo ein internationaler Mathematikerkongreß statt, bei dem Carl eines der Hauptreferate hielt (den genauen Titel seines Vortrags habe ich mir während meines Besuchs leider nicht notiert, und es war mir auch nicht möglich, ihn zu recherchieren; ich weiß nur, daß er sich mit der Typentheorie aus der Principia Mathematica von Bertrand Russell und Alfred North Whiteheat auseinandergesetzt hatte und daß er dafür, wie er mir, dem Elfjährigen, mit vor Stolz roten Backen am selben Abend berichtete, stürmischen Applaus geerntet habe). Eigentlich hatte ihn Margarida begleiten wollen, das Hotel war schon ein Jahr zuvor gebucht worden, die Flugtickets bereits ausgestellt; und nun war das Unvorhergesehene dazwischengekommen, nämlich ich. Margarida schlug vor, sie werde in Lissabon bleiben, und ich solle Carl begleiten; bestimmt sei es keine Sache, die Tickets umschreiben zu lassen, für mich werde so eine Reise zu einem großen Abenteuer werden, sie selbst sei schon zweimal in São Paulo gewesen und werde sicher noch zwei weitere Male hinüberfahren. Carl gefiel das alles nicht, das merkte ich wohl. Er argumentierte aber nicht, er reagierte mit Mißmut. Ich hätte gern gesagt, nein, ich möchte nicht nach Brasilien, diese Art von Abenteuer interessiert mich nicht. Aber ich hätte Margarida enttäuscht. Sie hatte ausgerufen: »Wie gern wär ich so alt wie du! Wie gern wär ich an deiner Stelle!« Was ich ihr allerdings nicht glaubte. Eine andere Version war nämlich weit irritierender für mich und leider auch wahrscheinlicher, nämlich: daß sowohl Margaridas Begeisterung als auch Carls Laune nichts, aber auch gar nichts mit mir zu tun hatten, sondern allein mit ihnen beiden. Ich bangte, ich könnte in der Nacht, wenn sie meinten, ich schliefe, wieder Ohrenzeuge von Carls Weinerlichkeit werden, die mich keine drei Jahre zuvor in solchen Schrecken versetzt hatte.
    Am Flughafen kaufte mir Carl ein Mickey-Mouse-Heft auf englisch (das ich heute noch besitze); im Flugzeug, nachdem ich mich an den Wolken und am Ozean satt gesehen hatte, las er mir das Heft vor – erst englisch, anschließend in deutscher Übersetzung, Sprechblase für Sprechblase. Er wirkte dabei pflichtbewußt und geistesabwesend; was nichts Besonderes gewesen wäre, er war oft mit seinen Gedanken weit aus der Gegenwart und dann wieder tief in ihr, nun aber, da ich fürchtete, ich falle ihm zum Last und auf die Nerven – nicht weil ich war, der ich war, sondern weil ich ihn in seinem Brüten störte –, bedrückte mich die plötzliche Fremdheit zwischen uns so sehr, daß sich in meiner Kehle ein Schmerz festsetzte, als hätte sich ein Knorpel quergelegt, und ich bald Schwierigkeiten hatte, überhaupt ein Wort herauszukriegen. Ich zählte die Stunden bis zu unserer Rückkehr; auf meinem Ticket stand, wann wir am 15. März wieder in Lissabon landen würden. Hoch im Himmel über dem Atlantischen Ozean schrieb

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