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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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stehen. Darum habe ich mich auf den Boden gesetzt. Ha, das Hinsetzen, das hätte mir Frau Mungenast am wenigsten zugetraut! Ich bin froh, daß sie nicht hier ist. Sie hätte uns nur den Abend verdorben mit ihrer Eifersucht. Es gibt einen Trick beim Hinsetzen. Ich lehne mich erst mit dem Rücken an die Wand. Nun schiebe ich einen Fuß vor und gleich den anderen. Man muß aufpassen, daß man nicht rutscht. Deshalb habe ich die Schuhe mit den Kreppsohlen angezogen. Noch einen kleinen Schritt, erst mit dem einen, dann mit dem anderen Fuß. Mit den Händen stütze ich mich auf die Krücke. Deshalb habe ich sie mitgenommen, und damit ich an deine Tür klopfen kann. Und zum Schluß knickst du die Knie ein und gleitest mit dem Rücken an der Wand nach unten und landest einigermaßen sanft. Letzteres ist mir nicht so gut gelungen. Aber fürs erstemal war’s nicht schlecht, fast so, wie ich es mir gedacht hatte. Nach dem Bad habe ich mich angezogen. Auch das kann ich allein, und ich tue es gern. Ich habe mich immer gern angezogen. Und jetzt habe ich Lust, mit dir im Treppenhaus zu sitzen und dir diese Geschichte zu erzählen und dabei nichts anderes vor mir zu sehen als die Nacht. Diese Geschichte ist sehr wichtig für mich, Sebastian. Deshalb habe ich mich ordentlich angezogen. Es ist keine Morgenmantelgeschichte. Wenn du über mich schreibst, mußt du diese Geschichte erzählen. Auch wenn ich darin eigentlich keine Rolle spiele. Versprich mir, daß du sie erzählen wirst!«
    In der Situation, in der wir uns befanden, bestand gar keine Möglichkeit, ihm eine Bitte abzuschlagen.
    »Ich habe dich nach deiner ersten Erinnerung gefragt. Ich will dir nun von meiner ersten Erinnerung erzählen.
    Auch ich war vier Jahre alt. Ich war in Wien. Ich habe keine Ahnung, wie ich nach Wien gekommen war. Ich erinnere mich nicht einmal, ob ich zusammen mit meiner Mutter dort war. Ich schließe aber aus dem Folgenden, daß sie mich nicht begleitet hat. Ohne meine Mutter, ohne meinen Vater, natürlich ohne ihn. Wahrscheinlich hatte mich meine Großmutter in Meran abgeholt. Das kam schon vor: Daß meine Großmutter an meine Eltern schrieb, es sei wieder einmal Zeit, den Enkel nach Wien abzugeben. Es war Sommer, und den Tag über spielte ich vor dem Haus unter den Bäumen auf dem Rudolfsplatz. In den heißen Monaten waren dort Karussells aufgebaut und eine Schießbude und Stände mit gebrannten Mandeln und Limonade. Auf der westlichen Seite des Parks standen zwei Fiaker. Von dort roch es nach Pferd und nach dem Tabak, den die Kutscher rauchten. Meine Großmutter gab mir ein paar Münzen, die durfte ich verprassen. Sicher hat man mir ein Dienstmädchen zur Aufsicht nachgeschickt. Es wird einigen Abstand gehalten haben. ›Er soll sich nicht kontrolliert vorkommen.‹ Ein kleiner Erwachsener.
    Woran ich mich nun wirklich gut erinnere: meine Großmutter in einem schwarzen bauschigen Kleid, auf ihrer Frisur ein schwarzer Hut, ich an ihrer Hand, wir stehen auf dem Bahnhof, die riesenhafte Dampflokomotive, Räder bis über den Kopf meiner Großmutter und die Transmissionsstangen. Dampf. Weißer, blauer, brauner, schwarzer. Wir fahren nach Berlin. Ich sage vor mich hin: ›Wir fahren nach Berlin, wir fahren nach Berlin.‹ Meine Großmutter und ich. Ich trage einen Lederranzen auf dem Rücken, mit einem Fell auf der Klappe. Darin bewahre ich ein Pferd und einen Reiter auf. Aus Blech. Manchmal hole ich die beiden hervor, stecke den Reiter auf das Pferd, stelle das Ding auf das Tischchen unter dem Zugfenster und denke mir, ich sei der Reiter mit dem bunten Turban und sprenge neben dem Zug über die Felder, setze über die Gräben, hetze durch die Wälder und springe, wenn wir durch eine Stadt fahren, von Dach zu Dach.
    In Berlin treffen wir Tante Franzi. Sie fragt meine Großmutter: ›Hast du den Jungen mitgebracht?‹ Warum fragt sie das? Sie sieht mich ja. Auch Tante Franzi trägt schwarze Kleider und auch sie einen schwarzen Hut. Wir steigen in einem sehr vornehmen Hotel ab. Ich bin geneigt zu glauben, es war das Adlon. In einem anderen wären meine Großmutter und Tante Franzi nicht abgestiegen. Meine Großmutter hatte mir nicht erklärt, was wir in Berlin tun würden. Aber das spielte ja keine Rolle. Tante Franzi konnte gar nicht genug davon bekommen, mir im Gesicht herumzufahren, und immer wieder wollte sie mich auf den Arm nehmen. Und immer wieder hat sie ausgerufen, wie glücklich sie doch wäre, wenn sie auch so was Schönes, Liebes hätte.

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