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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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hierhergebracht hatte. Ich wußte es, ich wußte es. Ich soll diesem Mann übergeben werden. Wenn er mich erst auf dem Arm hält, läßt er mich nicht mehr herunter. Wenn er es schafft, mich festzuhalten, dann gehöre ich ihm für immer. Er wird sich umdrehen und mit mir fortgehen. Meine Großmutter und meine Tante wollen mich diesem Mann schenken. Darum hat mich meine Großmutter hierhergebracht. Ein Entsetzen erfaßte mich, so elementar, daß mir die Tränen aus den Augen fielen und der Speichel aus dem Mund tropfte und ich mein Wasser nicht halten konnte. Die Bluse meiner Großmutter war naß und ihr Nacken auch. Aber sie verriet mich nicht. Sie sagte nur: ›Wenn du nicht willst, Carl Jacob, mußt du auch nicht.‹ Aber das glaubte ich ihr nicht. Sie ist nicht auf meiner Seite. Sie tut nur so. ›Carl Jacob, Carl Jacob‹, wimmert Tante Franzi, ›Carl Jacob, stell dich nicht so an! Er will dich doch nur halten. Darf er denn nicht einmal das mehr?‹ ›Willst du nicht vielleicht doch?‹ fragt mich meine Großmutter. ›Nur kurz, Carl Jacob. Ich bin ja hier. Du würdest Onkel Hanns eine große Freude bereiten.‹ ›Aber er will doch, der kleine Mann will doch‹, höre ich wieder seine Stimme in meinem Rücken. ›Gib ihn mir einfach! Er will ja. Du stellst dich an. Du. Warum so ein Theater!‹ – Duuuu stellst dich an. Duuuu … Waruuuum so ein Theaaaater … – Sein Finger hackt weiter zwischen meine Schulterblätter, fester nun, und er drückt bei jedem Stoß die Kuppe eine Weile gegen mein Rückgrat, ich spürte seinen Fingernagel durch mein Hemd. Und noch leiser als bisher sagt er: ›Um Himmels willen, soll ich denn zu so einem Dreikäsehoch bitte sagen, nur damit ich ihn wiegen darf, wie schwer er ist?‹ – Wiiiiegen darf, wie schweeeer er iiiist … – ›Friederike, bitte, laß ihn los!‹ kreischt Tante Franzi und legt ihre Hände um meine Rippen und versucht, mich von ihrer Schwester wegzureißen. ›Laß den Bengel doch einfach los!‹ Der Mann kichert: ›Mensch, Carljacobchen, das tut doch nicht weh. Ich hab’ doch keine Eisenpranken.‹ Einer der Polizisten mischt sich ein: ›Sehen Sie denn nicht, daß der Kleine nicht will?‹ Nun bohrt der Mann den Finger nicht mehr in meinen Rücken. Ich höre ihn ausatmen. Wie nach einem verlorenen Kampf. Meine Großmutter sagt: ›Hanns, es ist gut. Franzi, es ist gut. Es soll nicht sein. Schluß jetzt! Franzi, setz dich hin!‹ Sie dreht ihrem Bruder und ihrer Schwester den Rücken zu. Ich gucke an ihrem Hals vorbei, durch die Haare hindurch, die unter ihrem Hut hervorquellen. Ich sehe Tante Franzi den fremden Mann umarmen, der unbedingt mich umarmen wollte und der nun dasteht und nichts tut, die Arme hängen läßt und die Augen offen hat. Jetzt schreit Tante Franzi sogar. Das ist kein Heulen mehr. Der Mann tut wie ich, er schaut über die Schulter seiner Schwester, schaut durch ihre Haare hindurch, zu mir herüber schaut er. Ich denke, er denkt sich, dich krieg’ ich noch, wart’s nur ab. Die Polizisten reißen Tante Franzi von ihm weg. Zu zweit schaffen sie es nicht, Dr. Zitschin muß mithelfen. Er streckt die Arme aus, faltet die Hände, als würde er gleich vom Sprungbrett ins Wasser hüpfen, und schiebt die Arme wie einen Keil zwischen Tante Franziska und den Mann und gibt dabei Geräusche von sich, wie wenn er ein schweres Paket auf den Kutschbock stemmte. Wir müssen den Raum verlassen. Wenn man das gewußt hätte, sagt einer der Polizisten. Draußen macht Dr. Zitschin Tante Franzi Vorwürfe. Weil sie sich so wenig zusammengenommen hat. Ihr Verhalten habe ihm geschadet, sagt er. Und auch ihrem Bruder. Aber er sagt auch, ihm würde es nicht anders ergehen als ihr in so einer Situation.
    Dr. Zitschin hat sich nämlich sehr bemüht. Ich war sein Trick. Ohne mich hätte der Gefängnisdirektor die Schwestern von Hanns Alverdes nicht eingelassen, damit sie sich von ihrem Bruder verabschieden. Dr. Zitschin hat vor dem Gefängnisdirektor mit erstickter Stimme den letzten Wunsch des Delinquenten vorgetragen: Er wolle noch einmal seinen kleinen Neffen sehen – den Stammhalter der Familie. Gelogen. Der letzte Wunsch gelogen, der Stammhalter gelogen. Aber der Trick hat funktioniert. Man unterschätze preußische Sentimentalität nicht. Gut, hatte der Direktor gesagt und war nobel gerührt gewesen, daß auch eine Bestie ein Herz hat, gut, er darf den Kleinen einmal auf den Arm nehmen, ausnahmsweise und gegen die Vorschriften. Und nun wollte der Kleine

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