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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Radioapparat und ein kleiner Fernseher und ein Plattenspieler und ein gutes Dutzend Schallplatten – Jazz, Folk, Blues, Rock’n’Roll, aber auch Die Winterreise von Schubert, die Margarida so sehr geliebt, und eine schwere Box mit Mozarts Don Giovanni , die Carl aus seiner Sammlung ausgemustert hatte, als er auf CD umgestiegen war. Margarida hatte dafür gesorgt, daß es mir an nichts mangelte; ich hätte nackt ankommen können zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wenn sie irgendwo auf ein Buch gestoßen war, von dem sie meinte, es könne mir gefallen, kaufte sie es und stellte es in »Sebastians Zimmer« ins Regal. Sie hatte meine Kleidergrößen und meine Schuhgröße gekannt und natürlich meine Vorlieben, und bei jedem Besuch fand ich etwas Neues im Kasten, ein Hemd oder eine Krawatte oder einen ärmellosen Pullover.
    Ich setzte mich an den Schreibtisch, der vor dem westlichen Erkerfenster stand, und formulierte eine Inhaltsangabe des vergangenen Tages, damit ich ein Gerüst hätte für meine Notizen. So hatte ich es gehalten während meines Besuchs, das war Teil meiner Eckermannarbeit. Vermerkte dazu auch meine eigene Befindlichkeit; was mich am meisten beeindruckt hatte – an diesem Tag nicht so sehr Carls Geständnis, daß er in São Paulo 1961 den Plan gefaßt hatte, Daniel Guerreiro Jacinto zu ermorden, auch nicht, daß er sich in Lissabon einen Killer besorgt hatte, sondern sein Zusammenbruch am Vormittag, als er unten beim See zwischen Sonnenschein und Schneetreiben nach dem lieben Gott gerufen hatte. Erinnerte auch an Carls Sticheleien über mein Zusammenleben mit Evelyn; fügte in Klammern eine Rüge an mich selbst hinzu, weil ich ihm von ihr überhaupt erzählt hatte, vor allem, weil ich ihm erzählt hatte, daß sie gelegentlich gleichzeitig zusammen mit einem Deutschlehrer und einem Sportlehrer ins Bett ging. Ich schrieb noch einmal – in Volksschülerschrift, wie ein Kind, das den Wunschzettel fürs Christkind aufsetzt – Name und Telefonnummer von Veronika Brugger auf. Am Ende der Seite stehen der Name »Dagmar« – ohne Kommentar – und darunter der Name »David« – ebenfalls ohne Kommentar. So endet C.J.C. 7, das letzte der Notizhefte, die ich in Lans geführt habe.
    Nie wieder werde ich ein solcher sein, der sich an sich selbst erinnert als einen, der einen Abschiedsschmerz empfand, wie ich ihn im Augenblick empfinde, da ich mich an den Abschied von Carl erinnere. – Er hätte an diesem Gedankenmäander seine kleine Freude gehabt. Über die syntaktische Selbstbezüglichkeit der Vorzukunft hatten wir uns irgendwann einmal ausführlich am Telefon unterhalten; das war in Zusammenhang mit Douglas Hofstadters berühmtem Buch über Kurt Gödel, Maurits Cornelis Escher und Johann Sebastian Bach gewesen, das er für die Zeitschrift profil rezensieren sollte, aber nicht wollte, und dem Redakteur als Ersatz mich empfohlen hatte; wenn ich mich recht erinnere, war es im Frühjahr 1986 gewesen, bald nachdem ich aus North Dakota zurückgekommen war. Ich hatte ihn angerufen und ihn gebeten, mir einige Dinge zu erklären, zum Beispiel Gödels Unvollständigkeitssatz – und warum, wie ich irgendwo gelesen hätte, manche Kritiker der Meinung sein konnten, dieser sei ein erster Schritt zu einem tatsächlich schlagenden, nämlich unschlagbar logischen Gottesbeweis. Er hatte schallend gelacht und geantwortet, wenn seiner Meinung nach irgendwo ein Gottesbeweis verborgen liege, dann im Phänomen der Erinnerung, das eigentlich als Urbild der Selbstbezüglichkeit in Hofstadters Buch eine zentrale Stelle hätte einnehmen müssen. Die Erinnerung beschreibe einen denkwürdigen Kreis, der sich von der Gegenwart in die Vergangenheit dreht, bis er die 180 Grad erreicht, also sozusagen in der Gegenwart desjenigen ankommt, an den erinnert werden soll, gleich darauf aber in die Zukunft wechselt, weil Erinnerung immer auch die Reflexion des Sicherinnernden über sich selbst mit einschließt, er sich also sagt, so, wie ich mich jetzt an diesen erinnere, werde ich mich eines Tages an mich selbst erinnern, nämlich, daß ich einst der war, der ich jetzt bin – womit er aber bereits in der Vorzukunft, im futurum exactum , angekommen ist, also bei 270 Grad, wo sich der Kreis zum Ausgangspunkt zurückkrümmt. Die Erinnerung sei wie die Treppe der Mönche auf dem Bild des Maurits Cornelis Escher, die immer nach oben – oder nach unten – führt, in Wahrheit aber nie die Ebene verläßt, weswegen dieser Zustand irreal und

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