Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
Zuerst hat sie getan, als ob ich gar nicht anwesend wäre, und nun dieses Übermaß. Sie war sechs Jahre älter als meine Großmutter, hatte aber einen Mordsrespekt vor ihrer jüngeren Schwester.
    Am nächsten Tag fahren wir mit der Straßenbahn. Bald stehen wir vor einem furchteinflößenden Gebäude. Es ist das Polizeipräsidium von Charlottenburg. Ein Mann mit zwei schneidigen, scharf begrenzten Schnauzbartstreifen und einer dicken Hornbrille mit kreisrunden Gläsern wartet auf uns. Er stellt sich als Dr. Zitschin vor. Er gibt mir die Hand und deutet eine Verbeugung an. Er hat Papiere bei sich. Die zeigt er den beiden Uniformierten, die beim Eingang stehen. Ihre Kopfbedeckung sieht ähnlich aus wie das Dach des Polizeipräsidiums. Das Papier, das mich betrifft, darf ich herzeigen. Meine Großmutter hebt mich hoch und nimmt mich auf den Arm. Und dort bleibe ich, bis wir das Gebäude wieder verlassen. Dr. Zitschin geht voraus, ihm folgt ein Polizist. Wir gehen durch Flure, schließlich betreten wir einen niedrigen Raum. An der Wand entlang zieht sich eine Bank. Sonst ist nichts in dem Raum. Auch kein Fenster. Wir warten. Dr. Zitschin geht auf und ab. Ich sitze auf dem Schoß meiner Großmutter. Tante Franzi weint und sucht immer nach der Hand ihrer Schwester. Die Tür öffnet sich. Ein Mann tritt ein, rechts und links von ihm zwei Polizisten. Der Mann ist glattrasiert. Auch sein Kopf ist rasiert. Er lächelt. Er hat sehr weiße Haut. Und sehr weiße Zähne. Und helle Augen. Mich schaut er nicht an. Tante Franzi umarmt ihn und weint nun noch lauter. Einer der Polizisten sagt, man dürfe den Mann nicht angreifen. Der Mann setzt sich auf die Bank uns gegenüber. Zwischen uns und ihm sind gut fünf Meter. Neben ihn setzen sich die beiden Polizisten. Eng neben ihn.
    Meine Großmutter sagt zu mir: ›Carl Jacob, das ist dein Onkel Hanns.‹
    Er war nicht mein Onkel, er war mein Großonkel. Der Bruder von Tante Franzi und meiner Großmutter. Hanns Alverdes.
    Hanns Alverdes war wegen zehnfachen Mordes zum Tode verurteilt worden. Vorübergehend saß er in einer der Zellen im Polizeipräsidium von Charlottenburg. Am Tag nach unserem Besuch sollte er in ein anderes Gefängnis gebracht werden und dort auf seine Hinrichtung warten. Köpfen. In welches Gefängnis, wurde nicht verraten. Dr. Zitschin – er war der Anwalt meines Großonkels – sagte, es bestehe noch eine Chance, im September nämlich finde der Juristentag in Danzig statt, bei dieser Gelegenheit werde ein Antrag zur Abschaffung der Todesstrafe vorgelegt. Bis dahin jedenfalls werde das Urteil nicht vollstreckt, das sei ihm versichert worden.
    Ich erinnere mich nicht, wie lange wir im Gefängnis gewesen waren, und auch nicht, was dort sonst noch vorgefallen war. Am Ende unseres Besuchs erlaubten die Polizisten meinem Großonkel, daß er mich auf den Arm nehme. Aber ich wollte das nicht. Ich schmiegte mich an meine Großmutter, umklammerte ihren Hals mit meinen Armen, spreizte meine Beine und umfing ihre Taille und biß in den Kragen ihres Kleides. Da spürte ich den Zeigefinger des fremden Mannes in meinem Rücken. Er hackt mit dem Zeigefinger in meinen Rücken, genau dorthin, wo darunter mein Herz ist, und sagt: ›Laß’ dich doch mal von mir drücken, Carljacobchen! Das tut mir gut und dir nicht weh. Ich will dich doch nur einmal drücken! Ich hab’ noch nie so einen sauberen, kleinen Herrn auf dem Arm gehabt.‹ Er spricht leise und nah an meinem Ohr. Ich habe mein Leben lang diese Stimme nicht vergessen, glaub mir. Diesen Tonfall. Die Vokale wie durchhängende Seile. Ich wiiiill dich dooooch nur einmaaaal drüüüücken … In den unspektakulärsten Gesprächen kam es immer wieder vor, daß irgend etwas diesen Tonfall in meiner Erinnerung aufgerufen hat. Wenn ich mich zum Beispiel mit unserem Rektor unterhalten habe, dem lieben, hochverehrten, etwas unterbelichteten Dr. Ramsauer, auf einmal hörte ich in meinem Kopf diese Stimme, die Wort für Wort die Rede dieses harmlosen, im großen und ganzen liebenswürdigen Mannes nachäffte, indem sie die festgezurrten Selbstlaute aus ihrer Verankerung riß, und auf einmal war er nicht mehr harmlos und auch nicht im großen und ganzen liebenswürdig. Und bei anderen Menschen ging mir das genauso, Männern, Frauen, immer wieder. Ohne daß ich einen Anlaß gesehen hätte. Als würde sich diese Stimme immer wieder in Erinnerung rufen. Auf dem Arm meiner Großmutter, an die ich mich klammerte, wußte ich, warum man mich

Weitere Kostenlose Bücher