Abendland
irrational sei, in seiner Wirkung jedoch ungeheuer mächtig. Die pure Erinnerung, sozusagen die Erinnerung an sich, lasse sich in der Musik beobachten, in besonders reiner Form in der kanonischen Kunst des Johann Sebastian Bach (unübertroffen in der Kunst der Fuge ), wenn er ein Thema immer wieder aufnehme und verändere – als Krebs oder horizontal gespiegelt, in die Quint transponiert oder um einige Töne versetzt oder in allen erdenklichen Permutationen –, was ja voraussetze, daß bei jeder Verformung das Original des Themas vom Zuhörer erinnert werde, ansonsten die Konstruktion in sich zusammenfalle. Die Erinnerung verleihe uns, zumindest in gedanklicher Form, Allgegenwärtigkeit, woraus der Verfasser der biblischen Genesis wohl die Chuzpe bezogen hätte, zu behaupten, Gott habe den Menschen ihm zum Bilde geschaffen. Ein möglicher Gottesbeweis, so führte Carl weiter aus, könnte eventuell in der Antinomie des futurum exactum gründen, und zwar in der selbstbezüglichen Schleife – ich werde einer gewesen sein, der dachte, er werde einer gewesen sein, der dachte, er werde einer gewesen sein, der dachte, er werde einer gewesen sein … und so weiter bis in alle Ewigkeit. Denn bis in alle Ewigkeit wird der in Form des futurum exactum sich an sich selbst erinnernde Geist aufgespalten sein, weil dieses System zwar widerspruchsfrei, aber nicht vollständig sei. Das Ding an sich, in diesem Fall das sich erinnernde Ich, wird zum Spiegel im Spiegel, dem Auge ins Unendliche entrückt; die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung; und plötzlich werde klar, was Kierkegaard meinte, als er die Wiederholung eine Erinnerung in die Zukunft nannte. Wenn die formale Logik a priori sei, also Menschenwerk, müßte es zumindest denkbar sein, sie widerspruchsfrei und vollständig zu gestalten, denn dies läge in diesem Fall ja allein in Menschenhand. Gödels zweiter Unvollständigkeitssatz aber führte allen agnostischen Formalisten, zu denen auch er, Carl, sich zähle, vor Augen, daß sich die Unergründlichkeit des Dinges an sich durch einen Nachweis der Widerspruchsfreiheit formaler Systeme nicht aus der Welt schaffen lasse. Womit Gödel zum Leidwesen seines – Carls – hochverehrten Lehrers David Hilbert bewiesen habe, daß die Logik uns nur geborgt worden sei. Aber wer könne uns so etwas borgen, wenn nicht ER? – Warum er dann weiterhin nicht an Gott glaube, fragte ich ihn. Seine Antwort: »Weil er aus mir eben so einen gemacht hat.« – Wieder einmal war ich mir nicht sicher gewesen, ob er scherzte – oder ob er scherzte, um zu verbergen, wie ernst es ihm war.
Als ich den Eintrag in mein Notizheft abgeschlossen hatte, stieg ich über die Treppe hinunter und betrat Carls ehemaliges Schlafzimmer. Wie ein Hund mit Hörnern erschien die Silhouette des Hometrainers im Halbdunkel des schmalen Raums. Das Rouleau war nach oben gezogen. Der Vollmond schien auf die Tannen, deren Äste nun keinen Schnee mehr trugen. Ich öffnete das Fenster, nahm die Überdecke von dem unberührten Bett und legte sie mir über die Schultern. Der Föhn hatte sich aufgelöst, es herrschten wieder eisige Februartemperaturen.
Alle Zimmer des Schlosses darfst du betreten, nur dieses eine nicht. – Carls Schlafzimmer war tabu gewesen. Nicht, daß er mir verboten hätte, mich darin aufzuhalten; es verbat sich von selbst. Margarida hatte es mir gezeigt. Ohne daß ich sie gefragt hätte, sagte sie eines Tages: »Ich denke, du würdest gern einmal Charlies Schlafzimmer sehen, hab’ ich recht?« Am Tag ihrer Beerdigung betrat ich es zum zweitenmal. Carl und meine Mutter waren spazierengegangen; sie hatten mich gefragt, ob ich mich ihnen anschließen wolle; diese Formulierung sagte mir, daß sie allein zu sein wünschten. Ich wünschte ebenfalls, allein zu sein. Ich wollte mich in Margaridas Zimmer setzen und an sie denken. Aber das ging nicht. Es hat mir zu sehr weh getan. Ich war in Carls Schlafzimmer gegangen. Auch damals hatte ich mich ans Fenster gestellt und hinausgeschaut. Keine zehn Meter von mir entfernt saß ein Eichelhäherpaar in der Tanne. Und da hatte ich mich an den fernen Nachmittag erinnert, als ich zusammen mit Carl über Hütteldorf hinaus und weiter am Wienfluß entlanggefahren war, weil er mir die Stelle zeigen wollte, wo er als Bub zusammen mit seinem Großvater ein Eisvogelpärchen durch ein Fernglas studiert hatte. Wir waren gleich alt gewesen, ich in Wirklichkeit, er in seiner Erinnerung, und er erzählte mir, daß ihm
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