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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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sein Großvater erzählt habe, daß auch er, als er in unserem Alter gewesen sei, zusammen mit seinem Großvater in Ungarn, in der Nähe von Budapest, auf Vogelerkundung ausgewesen sei. »Wann war das?« hatte ich Carl gefragt. »Vor hundert Jahren«, hatte er geantwortet.
2
    In der Nacht pumperte es an meine Tür. Weich. Dumpf. Ich meinte, es sei Frau Mungenast. Ich knipste das Licht an. Der Wecker zeigte auf kurz vor drei. Ich schlüpfte in den Morgenmantel. Merkwürdiger- und perfiderweise rechnete ich damit, daß sie betrunken sei. Im Flur auf dem Fußboden, der Tür gegenüber, mit dem Rücken an der Wand, saß Carl, ein Bein angewinkelt, das andere schräg von sich gestreckt, in einer Hand einen Krückstock. Er winkte mir zu. Lächelte selig. Er war vollständig angezogen – braune Kordhose, braune polierte Schuhe, dunkelgrüne Socken mit roten, gelb umrahmten Rauten, sein kariertes Sakko in der Farbe von herbstlichem Buchenlaub, darunter das rote Wollwams und ein zartgemustertes Hemd mit Kragenknöpfchen und eine weinrote Wollkrawatte. Er hatte sich rasiert, Parfümduft stieg zu mir auf. Erfrischt sah er aus.
    »Erschrick nicht«, sagte er mit heiterer Stimme, blinzelte gegen das Licht, das aus meinem Zimmer fiel. »Es ist nichts. Gar nichts. Kein Grund zur Beunruhigung. Glaub’ mir. Ich konnte nicht schlafen. Das ist alles. Hock’ dich zu mir. Und lösch’ bitte das Licht aus.«
    Ob wir uns nicht lieber in mein Zimmer setzen sollten, fragte ich, oder hinunter in den Salon. – Ich werde einen Arzt anrufen müssen, dachte ich; den stoppelbärtigen Doktor mit den perfekten falschen Zähnen, der ohne jeden Optimismus war. – Nein, sagte er, es genüge, wenn ich ihm ein Kissen gebe, damit er es sich unter den Hintern schiebe. – Oder Frau Mungenast; ihre Nummer und die des Arztes waren neben jedem Telefon des Hauses an die Wand geklebt. – Für ihn, sagte er in seinem charmantesten Singsang, sei es ein Abenteuer, mit einem Freund mitten in der Nacht im Hausflur auf dem Fußboden zu sitzen. »Bitte, Sebastian, schau’ nicht so ernst!«
    Als ich dann tatsächlich neben ihm saß und nichts vor mir sah als Schwärze – er wollte, daß ich die Tür zu meinem Zimmer schließe, damit von nirgendwoher Licht in das Treppenhaus dringe –, war mir, als träumte ich und als würde in diesem Traum gleich etwas Unerhörtes geschehen, was mir nie wieder erlaubte, der zu sein, der ich bisher gewesen war; allerdings floß bereits zu viel Adrenalin in meinem Blut, als daß ich mich auf irgend etwas Unwirkliches glaubhaft einlassen konnte.
    »Ich möchte dir eine Geschichte erzählen«, begann er. »Eine letzte. Ich schiebe sie vor mir her. Schon die längste Zeit. Ich wollte sie dir heute abend erzählen. So hatte ich es jedenfalls geplant. Wir haben aber nicht die Kurve gekriegt.«
    »Und morgen?« fragte ich. »Hat die Geschichte nicht Zeit bis morgen.«
    »Hätte sie natürlich. Aber vielleicht auch nicht. Versteh’ mich nicht falsch, bitte. Ich rechne nicht damit, daß ich heute nacht sterbe. Es könnte sein, es könnte nicht sein. Ich fühle mich sehr wohl im Augenblick. Aber es könnte immerhin sein. Es ist mir nicht gelungen einzuschlafen, und ich habe Tabletten gegen die Schmerzen geschluckt und dazu etwas Aufhellendes, was es nur in der Schweiz gibt und was mir regelmäßig ein Freund zuschickt. Es sind sehr gute Tabletten, ihre Wirkung hält einen Tag lang an. Die Wirkung der Schmerzmittel ist deutlich knapper begrenzt, und wenn man Schmerzen hat, kann auch dieses sagenhafte Trazodonhydrochlorid einem nicht viel Licht aufsetzen. Nun, zwei, drei Stunden werden uns genügen. Dann wird ja auch Frau Mungenast bald kommen. Schelte mich nicht, Sebastian! Sag’ einem Mann wie mir nicht, was vernünftig ist und was nicht. Was hätte ich denn tun sollen? Die einen Tabletten nehmen den Schmerz, die anderen machen wach und tatsächlich auch ein bißchen glücklich. Hätte ich wach, schmerzlos und glücklich im Bett liegen sollen, ohne es zu nutzen? Solche Verschwendung möchte ich mir nicht leisten. Ich habe ein Bad genommen. Ich kann das. So weit wird es nie mit mir kommen, daß ich ohne Hilfe kein Bad mehr nehmen kann. Frau Mungenast traut mir zuwenig zu. Sie würde mir nie und nimmer zutrauen, daß ich allein über die vier Stiegen zu deinem Zimmer emporsteige. Und trotzdem habe ich es geschafft. Ich hätte es sogar ohne die Krücke geschafft. Sie war mehr lästig als hilfreich. Gehen und steigen ist besser als

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