Abendland
betrachteten, in einige Verlegenheit gebracht. Einerseits machte man mit Verbrechern dieses Kalibers kurzen Prozeß. Andererseits: Kann ein Regime, das in der Vernichtung von minderwertigen Rassen seine vordringlichste Aufgabe sieht, einen Mann in einem Irrenhaus belassen, der von sich selbst behauptete, neun Menschen aus dem alleinigen Grund getötet zu haben, weil ihre Haut schwarz war? Wenn Alverdes ins Irrenhaus gehörte, gehörte das gesamte nationalsozialistische Deutschland dorthin. Goebbels hätte ihn wohl mit Ehrengeleit rausgeholt.«
Zu der Zeit, als Joseph Goebbels dies hätte veranlassen können, lebte Hanns Alverdes noch; und zu der Zeit, als Herwig Leopold sein Buch schrieb, lebte er auch noch.
(Daß die Nazis Alverdes beließen, wo er war, und an der Sache nicht rühren wollten, hatte durchaus einen Grund. Im Herbst 1933 erschien in dem der rassistischen Typenlehre von Erich Rudolf Jaensch nahestehenden, pseudowissenschaftlichen Periodikum Blätter für Psychologie und Anthropologie ein Artikel über Alverdes, dem ein Gespräch mit demselben folgte. Ein anonymer Autor hatte den Einsitzenden besucht, und dieser hatte sich erstaunlicherweise bereit erklärt, Rede und Antwort zu stehen. Zweck dieses Gesprächs war es wohl tatsächlich, erste Schritte zu einer Rehabilitierung zu setzen. Das Interview ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Erstens sind die Fragen durchwegs um ein Vielfaches länger als die Antworten. Die Tendenz ist ihnen deutlich anzumerken. Der Autor wollte offensichtlich von Alverdes dessen damals vor Gericht vorgetragenen rassistischen Standpunkt bestätigt haben – nach dem Motto: Rassenkampf auf eigene Faust. Im Kontra dazu zweitens: Alverdes läßt keinen Zweifel daran, daß ihm die Hautfarbe seiner Opfer in Wahrheit völlig egal war. Sein letzter Satz: »Ich habe es getan, weil ich wissen wollte, wie es ist, wenn man so etwas tut.« Warum die Zeitschrift das Interview dennoch abdruckte, scheint rätselhaft; vielleicht weil die Redakteure der Meinung waren, Neger umbringen ist gut und nicht schlecht, gleich, aus welchem Motiv.)
Carl: »In den ersten Tagen des Jänners 1976 bekam ich einen Brief von einem gewissen Dr. Jens Lengerke, Psychiater und Leiter der Nervenheilanstalt Stabenow in Berlin-Zehlendorf. Er schrieb, er selbst, aber schon sein Vorgänger, Dr. Schwarz, und auch dessen Vorgänger, Dr. Bredekamp, hätten sich nach eventuellen Angehörigen des in ihrer Anstalt einsitzenden Patienten Hanns Alverdes erkundigt. Ich, Carl Jacob Candoris, sei der einzige, der sich habe finden lassen. Er wolle mir mitteilen, daß mein Anverwandter – in welcher Beziehung ich zu ihm stehe, hätten er und seine Vorgänger nicht herausfinden können – im Sterben liege. Vielleicht wolle ich ihn ja sehen. Er halte das zwar nicht für wahrscheinlich, denn wie er aus den Aufzeichnungen der Anstalt lese, habe Hanns Alverdes seit seiner Einlieferung vor – die folgende Zahl unterstrich er zweimal – 66 Jahren keinen Besuch eines Familienmitgliedes bekommen.
Er lebte also noch. Er war hundertundvier Jahre alt!
Als erstes erzählte ich Margarida die Geschichte. Das dauerte gut einen Tag. Ein Tag war also gewonnen. Ich hatte bis dahin mit niemandem darüber geredet. Ich habe mein Versprechen gehalten. Nun waren sie alle tot: mein Großvater, meine Großmutter, Tante Franzi, Tante Kuni. Alle, nur er nicht. Ihm hatte ich nie etwas versprochen. Margarida bat mich, nicht nach Berlin zu fahren, händeringend bat sie mich, flehte mich an. ›Er macht dich kaputt‹, prophezeite sie mir. ›Quatsch‹, sagte ich, ›er ist hundertundvier Jahre alt, was kann er mir tun? Den hau’ ich doch um mit links!‹ Wieder war ein Tag vergangen, ich habe die Entscheidung vor mir hergeschoben, von einem Tag auf den nächsten. Margarida sagte, wenn ich fahre, werde sie mich begleiten. ›Ich fahre doch nicht in den Urwald, mein Liebling‹, sagte ich, ›nur nach Berlin.‹ Und ich scherzte: ›Er wird mich nicht mehr hochheben und auf den Arm nehmen wollen.‹ Wir haben gelacht. Ein Hundertundvierjähriger hebt einen Siebzigjährigen hoch und nimmt ihn auf den Arm. Ist das nicht komisch? Und schon war wieder ein Tag vergangen. Ich habe noch ein paar Tage verstreichen lassen und noch ein paar Tage. Und als ich mich endlich aufraffte und mich in den Mercedes setzte und über die westdeutschen Autobahnen raste und durch die DDR tuckerte und in Westberlin ankam und ein Zimmer im Kempinski nahm und am nächsten Tag
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