Abendland
wird sich gedacht haben, ein Dämon steckt in dieser Familie. Ich kann es ihm nicht verdenken. Ich habe mir das auch oft gedacht. Meine Großmutter und Tante Franzi ließen ihm aber keine Ruhe, und so hat er es gerichtet, wie er es eben richten konnte, nämlich mit Geld. Er hat seine Verbindungen spielen lassen und Bestechungsgelder bezahlt, daß man dafür eine Lokomotive gekriegt hätte, damit sein Schwager in die private Heilanstalt Stabenow in Berlin-Zehlendorf überführt wurde. Dort wurde er in ein Spezialzimmer gesperrt. Das mußte man erst bauen. Engvergitterte Fenster. Vor der Tür ein verschiebbares Stahlgitter. Man hatte den Anbau an den hinteren Teil des Hauptgebäudes gesetzt, damit man nicht gleich bei der Ankunft schon sähe: Halt, hier stimmt doch was nicht! Sogar im Versteckten hat man ihn noch versteckt.
Aber er hatte es gut dort. Er war ein Bevorzugter. Bestes Essen. Immer frische Wäsche. Tadellose medizinische Betreuung. Blick auf den Rosengarten. War natürlich teuer die Sache, sehr, sehr teuer. An jedem Monatsersten wurde das Geld überwiesen. Wie lange? So lange der Patient lebt natürlich. Er hat ja lebenslänglich bekommen. Also muß man auch lebenslänglich zahlen. Nicht einmal während der Wirtschaftskrise setzten die Zahlungen aus. Aber mein Großvater stellte eine Bedingung. Nie wieder, nie wieder, das ließ er sich von meiner Großmutter und von Tante Franzi schriftlich geben, nie wieder wird der Name Hanns Alverdes in der Familie erwähnt. Wenn er den Namen auch nur ein einziges Mal hört, läßt er den Dauerauftrag löschen und stellt automatisch die Überweisungen ein. Logischerweise der Sonderpatient nach Plötzensee zurückgebracht werde. Meine Großmutter und ihre Schwester gaben ihr Wort. Damit war der Fall für meinen Großvater erledigt.
Meine Großmutter hat ihr Wort gehalten, sie hat mit niemandem darüber gesprochen. Wenn die Rede auf ihre Familie kam, sagte sie, sie habe noch eine Schwester, die lebe in Göttingen, Franziska heiße sie, und sonst habe sie niemanden. Tante Franzi aber hat ihr Wort nicht gehalten, sie hat die Geschichte ihrer Tochter weitererzählt. Und Tante Kuni hat sie mir weitererzählt. Und ich erzähle sie dir. Und du schreibst sie auf. – Sebastian?«
»Ja?«
»Ich dachte, du schläfst.«
»Warum hast du das gedacht? Warum sagst du das dauernd? Ich schlafe nicht ein!«
»Dein Atem hat sich so angehört.«
Auf dem phosphoreszierenden Zifferblatt meiner Armbanduhr sah ich, daß es gleich fünf war. – Die Geschichte war aber noch nicht zu Ende.
Als Kuni Herzog mit Carl über Hanns Alverdes sprach, wußte sie nicht, ob dieser noch in der Irrenanstalt einsaß oder ob er vielleicht doch in ein Gefängnis verlegt worden war; sie wußte nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte. Das war um 1930 herum gewesen, zwanzig Jahre nach dem Prozeß. Auch ihre Mutter wisse nichts Näheres; nicht einmal, welche Irrenanstalt es war, wußte sie; Carls Großvater hatte weder seine Frau noch seine Schwägerin informiert. Er sei in guten Händen, hatte er gesagt und sich nicht verkniffen hinzuzufügen: »In besseren, als er es verdient.«
»Natürlich hätte ich gern mehr gewußt«, sagte Carl. »Ich habe Tante Kuni von meiner ersten Erinnerung erzählt. Sie fand das ungeheuer spannend. Sie fand die Tatsache spannend, daß aus unserer Familie ein Ungeheuer hervorgegangen war. Alles war ihr recht. Wenn es nur gegen die Langeweile half. Ich habe mich manchmal gefragt, ob sie auch mit ihrer damaligen Freundin Edith Stein über unseren bemerkenswerten Anverwandten gesprochen hat. Ich bin überzeugt, sie hat. In jenem Sommer, als der Krieg ausbrach, war die Geschichte ja gerade einmal vier Jahre her. Jeder erinnerte sich daran. Es gab immer noch vereinzelt Spinner, für die war Hanns Alverdes ein Held. Diese Spinner hatten sogar Aufwind bekommen. Ein Deutscher, der dem niederen Teil der Welt zeigte, wo der Hammer hängt. Ich habe mich nicht getraut, Tante Kuni zu fragen, was für eine Meinung das Fräulein Stein in dieser Angelegenheit vertreten habe. Ich wollte ihren lieben Namen nicht zusammen mit dem eines Ungeheuers in ein Satzgefüge sperren. Ich sagte bereits, ich bin meinen Tanten während meines Studiums aus dem Weg gegangen. Ich hätte mich unter normalen Umständen auch nicht auf so ein Gespräch mit Tante Kuni eingelassen. Und ich muß auch zugeben, nicht sie hat damit angefangen, sondern ich. Ich habe sie zufällig in der Stadt getroffen, was des öfteren
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