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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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vorkam, dann haben wir uns die Hand gegeben und guten Tag gesagt und noch ein paar verlegene Worte, aber diesmal habe ich sie zu mir auf meine Bude eingeladen. Oh, sie hat sich überschäumend gefreut! Mein Gott, war sie häßlich geworden! Sie war Ende Vierzig und sah aus wie Sechzig. Und gleichzeitig wie Sechzehn. Ein zwischen Welten und Zeiten zerfetztes Gesicht. Sie sagte, es gehe ihr gut. Und Tante Franzi gehe es ebenfalls gut. Ich war gerade aus Moskau zurückgekommen und hatte Eis im Kopf, wirklich Eis im Kopf. Hab’ mich im Mördersein noch nicht eingerichtet gehabt. In so einem Ausnahmezustand sucht man nach Rat. Man schaut sich um. Und findet etwas Vergleichbares in der eigenen Familie. Es liegt in der Familie! Also bitte! Ich habe sie gefragt, ob sie den Namen Hanns Alverdes kenne. Und jetzt ist es aus ihr herausgesprudelt. Es hat mir gutgetan. Es gibt einen, der hat’s noch schlimmer getrieben als du. Du bist nicht der erste, und du bist nicht der einzige. Du bist etwas, das es vorher bereits gegeben hat. Something that has existed before. Ich schlug Tante Kuni vor, daß wir beide uns detektivisch betätigen und herausfinden, wo unser Onkel Hanns sitzt, und daß wir ihn gemeinsam heimlich besuchen und ausquetschen. Der Vorschlag war natürlich nicht ernst gemeint gewesen. Ich wollte lediglich ihre Phantasie etwas aufkitzeln. ›Ich würde ihm nämlich gern seinen Blick zurückgeben‹, sagte ich, ›diesen unheimlichen Blick, den er durch die Haare von Tante Franzi mir zugeschickt hat.‹ Sie hat die Augen nach oben verdreht, und ein Schauder ist über sie drübergelaufen. Und ihr Leben hatte einen Sinn. ›Du meinst, dieser Blick steckt immer noch in dir drin?‹ fragte sie in andächtigem Falsett. ›Ja, das meine ich‹, sagte ich und zog einen bitteren Mund, was pure Schauspielerei war. Aber nicht Tante Kuni war das Publikum, sondern ich selbst. Ich tat vor mir selbst so, als ob ich einen spielte, der so tut, als ob der Blick des Hanns Alverdes noch immer in ihm steckte wie ein rostiges Messer in einem Baumstamm. Um mir selbst vorzumachen, daß es nicht so sei. Derweil ich doch genau wußte, daß es so war. Immer wieder mußte ich Tante Kuni meine Begegnung mit dem unheimlichen Onkel Hanns erzählen. Sie war gierig danach. Sie selbst hatte ihn ja nie gesehen. Meine Vermutung war, er sitze in Rasemühle, dem Sanatorium bei Göttingen. Das schien mir naheliegend, aus der Psyche meines Großvaters geschlossen. Daß der Kerl möglichst nahe an die Göttinger herangerückt wird. Damit alles oder wenigstens das meiste an denen hängenbleibt. Wien ist weit, in Wien geschehen solche bösen Dinge nicht. Eine von den Alverdischen hatte er gerettet, nämlich meine Großmutter, mehr konnte man von ihm nicht verlangen. Die Bestie, die soll dorthin, wohin sie gehört. Nach Rasemühle waren das Fräulein Stein und ich hinausspaziert, ich mit meinen acht Jahren, daran erinnerte ich mich sehr genau, es war ihre Idee gewesen. Auch, daß wir uns in den Park des Sanatoriums schleichen und uns unter ein bestimmtes Fenster stellen, weil dort ein guter Platz war, um einem Jecken zuzuhören, der in seinem Zimmer wirres Zeug jodelte.
    Tante Kuni hat sich nicht getraut. Ich habe sie aufgezogen. Und aufgehetzt, bis sie in Panik geraten ist. Sie hat sich vor mir zu fürchten begonnen. Und stell’ dir vor, sie hat mir einen Brief geschrieben. Einen Brief! Sie hat Angst gehabt, mich zu treffen! Sie schrieb, sie habe erfahren, daß H.A. gestorben sei. Und sie bitte mich, den Brief zu verbrennen und nie wieder vor ihr diesen Namen auszusprechen und unter gar keinen Umständen vor meiner Mutter oder vor Tante Friederike zu erwähnen, daß sie mit mir über deren Bruder gesprochen habe. – Nun, ich habe Tante Kuni geglaubt. Die Canaille ist tot. Fragt nicht nach ihr!«
    »Und du hast nie mit deiner Großmutter über Hanns Alverdes gesprochen.«
    »Nein. Natürlich nicht.«
    Herwig Leopold, als er 1962 seine Deutschen Kriminalprozesse schrieb, war ebenfalls davon ausgegangen, daß Hanns Alverdes nicht mehr lebte (damals wäre er neunzig gewesen), daß er irgendwann in den späten dreißiger Jahren gestorben sei. Leopold spricht das zwar nicht dezidiert aus, legt aber den Schluß nahe. Ich zitiere den letzten Absatz des betreffenden Kapitels:
    »Das berüchtigte Geständnis des Hanns Alverdes, von ihm selbst als Verteidigung gedacht, hätte die nationalsozialistischen Behörden, die sich als zuständig für die Hygiene des Erbgutes

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