Abendland
Beliebigkeit. Nahezu hundert Prozent aller Dinge erscheinen einem ohne Bedeutung; folglich, wenn man ins Leben einblendete – und der Beginn einer Erzählung war ja nichts anderes als eine solche Einblendung –, war die Wahrscheinlichkeit überwältigend hoch, daß man auf etwas Bedeutungsloses traf. Der Zweck einer Erzählung aber bestand ja gerade darin, dem Bedeutungslosen Bedeutung zu verleihen, und zwar allein dadurch, daß ich behauptete, es habe Bedeutung … Nein, soweit war ich noch nicht. Am Ende unserer Diskussion hatte ich mich mangels eines panzerbrechenden Arguments enerviert Dagmars Meinung unterworfen, nämlich daß Literatur eine emanzipatorische Aufgabe zu erfüllen habe (ihre Mitbewohnerin und auch die beiden Bärtigen in der Mensa hätten korrigiert: einen agitatorischen Zweck!), und fügte lediglich quengelnd hinzu, daß auch hinter meinen Erzählungen eine Idee stehe, die allerdings nur in dieser spezifischen Form begreiflich werde, und daß gerade die Entdeckung der scheinbar bedeutungslosen Dinge von großer Bedeutung sei, weil sie den Menschen die Einheit allen Seins antizipieren lasse – oder so ähnlich, um Himmels willen. Auch wenn ich mich mit bestem Wissen und Gewissen vom herrschenden Zeitgeist fernhielt, hatte ich noch nicht den Mut zu behaupten, der Sinn einer Erzählung sei die Erzählung selbst und nicht ein didaktisches Etappenziel auf dem Weg zur Besserung. – Jedenfalls: Bevor ich den Main erreichte – also etwa fünf Minuten nach Verlassen des Hauses –, mußte der erste Satz stehen. Meistens war es eine wörtliche Rede. Irgend jemand sagte zu irgend jemandem irgend etwas. Der andere gab Antwort, ich spuckte in den Main und dachte mir aus, wo das Gespräch stattfand; beschrieb mir einige Details, entwarf mir ein Bild von Jahreszeit und Tageszeit und Stimmung. Ich ließ die beiden abwechselnd noch ein paar Sätze sagen – einer der beiden war mein Jacob, der vife Zehnjährige, der seine Welt in die Angeln stemmte, indem er zum Beispiel darauf achtete, daß immer Milch und Kakao im Haus waren, weil eine Tasse heißer Schokolade die Mutter etwas näher an ihn heranholte und damit berechenbarer werden ließ, was wiederum eine Voraussetzung war, wenn sie gemeinsam die Launen des Vaters im Zaum halten wollten … Die zweite Person war entweder bereits in anderen Geschichten aufgetreten oder war, was ich aufregender fand, ein neuer Mensch, der von irgendwoher dazukam und den Jacob – und mit ihm ich – erst kennenlernen mußte.
Wenn ich mit dem Brot nach Hause kam, war die erste Geschichte des Tages in groben Zügen fertig. Ich stellte das Kaffeewasser auf, repetierte den Ablauf murmelnd vor mich hin und notierte mir die Namen der neu auftretenden Personen und die Eckpunkte der Handlung. Ich weckte Dagmar, wir frühstückten. Sie fragte: »Und?« Ich sagte: »Ja.« Dann ging sie, entweder in die Uni oder zu ihrer Wohnung oder bloß in die Stadt. Mittags trafen wir uns in der Mensa. Regelmäßig kam es zu Zänkereien mit den beiden bakuninistischen Bärten, woran übrigens immer ich schuld war. »Du interessierst dich nicht für meine Leute!« warf mir Dagmar hinterher vor »Nein«, gab ich ihr recht, »ich habe keine Zeit, ich muß nämlich Geschichten über andere Leute schreiben.« Anschließend fuhr sie nach Hause, unterwegs kaufte sie fürs Abendessen ein, Camembert crème du prés , Zervelatwurst, Schnittlauch, Tomaten und Zwiebeln und manchmal eine Flasche Wein (für sich, ich habe Alkohol nicht angerührt). Ich spazierte derweil durch die Stadt, stöberte in Buchhandlungen, Antiquariaten oder Plattenläden und setzte mich schließlich ins Laumer oder in das Café in der Hauptwache und erzählte mir die Nachmittagsgeschichte direkt in ein Schulheft. Auch hier war Jacob der Held. Aber im Gegensatz zur Vormittagsgeschichte, in der über ihn in der dritten Person erzählt wurde, war nun er selbst der Erzähler. Mir kam das wie eine Synthese von Tom Sawyer und Huckleberry Finn vor. Der Vergleich befeuerte mich. Am Abend legten wir uns ins Bett, und ich las vor, ihren Kopf auf meiner Schulter, einen Schenkel zwischen ihre Beine geklemmt, ihre warmen weichen Brüste an meiner Seite, eine konnte ich sehen, wenn ich am Ende eines Blattes angelangt war.
Eine Zeitlang ging das gut, die Geschichten flogen mir zu. Ich kam mir vor wie Balzac oder Tschechow oder George Simenon. Wenn ich keine Zeit fand, die Nachmittagsgeschichte in die Maschine zu schreiben, tippte sie Dagmar am
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