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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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erzählte von Manhattan, wo ich erst vor einem halben Jahr eine Woche lang gewesen war, und wir nahmen uns vor, Geld zu sparen und bei der nächsten Gelegenheit gemeinsam hinüberzufliegen; und wir fuhren und fuhren, bis wir Hunger bekamen, verdrückten bei einer Raststätte ein Sandwich und kehrten in der Dunkelheit wieder heim. An anderen Tagen spazierten wir eng umschlungen am Main entlang, als wäre hier Paris, sie in ihrem schwarzen Mantel aus Ziegennappaleder, der ihre zarte Figur so elegant betonte und für den sie zwei Monate in den Semesterferien bei der Post gearbeitet hatte; wir setzten uns auf einen der betonierten Blumenkästen in der Zeil, drehten Tabak und rauchten und beobachteten die Strebsamen und Besorgten, die Getriebenen und Entschlossenen und dachten, zu denen gehören wir auf alle Fälle nicht mehr, und dachten, seit neuestem gehören wir nur noch uns selbst. Ich erzählte ihr von meinem Vater und seinem traurigen Ende, und sie hörte mir zu und sagte: »Schreib über ihn!« Aber das konnte ich nicht. Ich sagte: »Noch kann ich es nicht.« (Am Telefon nach über zwanzig Jahren fragte sie mich, ob ich inzwischen über meinen Vater geschrieben hätte. »Immer noch nicht«, hatte ich ihr geantwortet.)
    Abends blieben wir meistens zu Hause. Während ich meine Griechen-Römer-Porträts verfaßte oder Manuskripte für Geschichte Oberstufe lektorierte, redeten wir miteinander, hörten Schallplatten, hauptsächlich ihre – die Brandenburgischen Konzerte von Bach, Ein deutsches Requiem von Brahms, alles von Bob Dylan und, was mir am besten gefiel, The Heart of Saturday Night von Tom Waits (als wir uns trennten, nahm ich die Platte, ohne zu fragen, mit, sie liegt heute noch bei meinen Sachen).
    Ich ließ mich antreiben – von ihren Launen, ihren fixen Ideen, ihren Zukunftsträumen und ihrer permanent auf Hochtouren arbeitenden Maschine zur Erzeugung von immer neuen Selbstbildnissen. Ich begann wieder zu schreiben – kurze Geschichten, die alle den gleichen Helden hatten, nämlich einen zehnjährigen Buben, der Jacob hieß und einen verrückten Vater hatte und eine Mutter, an die nicht heranzukommen war, und der sich in einer großen Stadt herumtrieb, die Wien heißen konnte. Die Geschichten waren nicht länger als zwei, drei Seiten und hatten als Vorbild die Nick Adams Stories von Hemingway. Jeden Tag schrieb ich eine, weil sich Dagmar jeden Tag eine bei mir bestellte. Wenn ich sie mittags in der Mensa traf, wo sie mit ihren Kommilitonen aus dem Seminar saß und Reisauflauf oder Schinkennudeln oder Hackbraten mit Püree aß, konnte es vorkommen, daß sie mir ins Ohr flüsterte: »Ich freue mich auf heute abend!«
    Irgendwann, wieder mittags in der Mensa, wandte sie sich abrupt von der immer etwas schief lächelnden jungen Lehrerin mit den hervorstehenden Schlüsselbeinen und dem schmächtigen Oberkörper ab – mit der zusammen sie an einem Referat über die Theorie des sogenannten »heimlichen Lehrplans« arbeitete (die sich ohne jeden Substanzverlust in den Satz »Der Schüler weiß, was der Lehrer hören will« zusammenfassen ließ) – und sagte mit lauter, stolzer Stimme, so daß es alle am Tisch hören konnten: »Sebastian, ich wünsche, daß du mir von nun an jeden Abend zwei deiner Kurzgeschichten vorliest.« Die am Tisch saßen, die schief Grinsende und die beiden Pädagogen mit den Kohlenschaufelbärten, die ich nicht auseinanderhalten konnte, betrachteten mich wie ein prähistorisches Studienobjekt, und Dagmar verkündete in einem Tonfall, als lüfte sie auf allgemeinen Wunsch hin nun endlich mein Inkognito: »Ja! Er ist Schriftsteller. Jetzt wißt ihr es. Und zwar der beste, den ich kenne. Ihr werdet euch an ihn erinnern. Schaut ihn genau an.«
    Ich teilte mir den Tag neu ein, stabilisierte und ritualisierte den Ablauf meiner Stunden. Ich stand noch früher auf – sechs Uhr! –, verließ das Haus, spazierte auf dem Eisernen Steg über den Main, am Römer vorbei zur Berliner Straße, wo im Souterrain eines Bürgerhauses die Bäckerei Kaiser war, die das beste Sauerteigbrot und die besten Brötchen der Stadt buk; den Rückweg nach Sachsenhausen zum Oppenheimer Platz nahm ich über die Kurt-Schumacher-Straße und die Alte Brücke. Meine Route dauerte etwa eine halbe Stunde, und im Straßenlärm fiel das nicht auf, wenn ich vor mich hin redete. Ich erzählte mir selbst eine Geschichte. Und zwar laut. Ich fing mit irgendeinem beliebigen Satz an. Achtete sogar besonders auf dessen

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