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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Wenn ich in ihr schmales, wegen des leicht vorspringenden Kinns herzförmiges Gesicht sah, befürchtete ich, daß ich in meinem bisherigen Leben fast alles verpaßt hatte; das war mein Unglück, aber mein Glück war, daß mir durch diese Frau die Chance geboten wurde, das Versäumte nachzuholen. Schon in der ersten Stunde präsentierte sie ihre Palette: ein unsteter Blick; immer abwechselnd ein wenig Seelenschmerz, ein wenig Mißtrauen, ein wenig Ablehnung; gleich darauf, als hätte jemand eine Seite in ihrem Herzbuch umgeschlagen, Hingabe und naives Weltvertrauen, was in mir augenblicklich einen Reflex von Ritterlichkeit auslöste, ein so altmodisches Gefühl, daß ich es tatsächlich nur aus Büchern kennen konnte. Dann, ohne mir auch nur eine Sekunde zum Umdenken zu gönnen, schnitt kalte Doktrin mein Wort ab, und sie schien nur noch aus Desillusioniertheit, Konsequenz und Arroganz zu bestehen; sie begann, mich zu agitieren, hielt mir einen Vortrag über die Arbeiterklasse, nämlich die »Arbeiterklasse an sich«, was etwas anderes sei als die »Arbeiterklasse für sich« – dieses der anzustrebende Idealzustand der Bewußtheit der eigenen Ziele und Interessen, jenes das schiere, dumpfe Dasein, bestehend aus Fressen, Saufen, Malochen, Fernsehen, Vögeln und Pennen –; eine Unterscheidung, die, soweit ich es verstand, darauf hinauslief, das An-sich mit gutem Gewissen als Rechtfertigung vorweisen zu können, wenn das Für-sich unterdrückt, geknebelt, geschunden und erschlagen wurde. (Später, wenn sie diesen Propagandaton anschlug, schmetterte ich sie ab, indem ich sagte: »Hör auf mit dem schwäbischen Nihilismus!« Darüber ärgerte sie sich maßlos. Es war eine Anspielung auf ihre Mitbewohnerin, die aus Plochingen stammte und außerdem Mitglied des Zentralkomitees des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands, abgekürzt KBW, war. Dagmar fürchtete sich vor dieser Frau, sie haßte sie; und bewunderte sie, jedenfalls genug, um ab und zu ihren Parteisprech zu kopieren.) Ich weiß, manche hielten Dagmar für wenig ernsthaft, meinten, sie probiere lediglich aus, jongliere mit Charakteren wie eine Schauspielerin, schlüpfe aus Übermut oder purer Darstellungssucht in immer verschiedene Rollen. Ich dachte das anfangs auch. Wer ist sie wirklich, fragte ich mich. Sie setzte Farbtupfer, die ein Bild ergaben, dessen Sujet auf den ersten Blick – auf viele erste Blicke – nicht zu erkennen war und nicht zu erkennen sein sollte. Das reizvolle daran war, daß sie ihre Strategie absichtlich durchschaubar hielt; und das war eine Aufforderung – oder eine Warnung: Verlaß dich auf gar nichts, in Wahrheit bin ich ganz anders! –; vor allem aber war es eine Bitte: Tu mir nicht weh! Manchmal verstummte sie, und ihr Blick kehrte sich nach innen, und ihr Gesicht zeigte sich so anmutig verschlossen, daß jeder, der um sie war, innehielt, als wäre er Zeuge von etwas Beispiellosem. »Was war mit dir plötzlich?« fragte ich sie einmal. »Nichts«, sagte sie. »Aber was hast du gedacht?« »Gar nichts.«
    Als ich nach so vielen Jahren ihre Stimme am Telefon hörte, spürte ich, wie eine heiße Welle in mir aufstieg, und ich wünschte, bei ihr zu sein, wie ich es vor so langer Zeit im Café Laumer gewünscht hatte; und daß uns über unseren Sohn ein gemeinsames Schicksal verband, katapultierte mich in den längst vergessen geglaubten Existentialistenhimmel von l’Amour fou – wo man sich in meinem Alter allerdings nur wenige Augenblicke aufhalten sollte.
    Sie wollte mit mir kommen. Und sie kam mit mir. Und kehrte nur noch selten in die Bockenheimer Landstraße zurück, und wenn, nur auf einen Sprung, um sich etwas zum Anziehen oder ein paar Bücher zu holen. Ich, der ich ein notorischer Langschläfer war, gewöhnte mir an, um sieben aufzustehen. Denn das war Dagmars Zeit. Wir frühstückten in meiner Küche. Dort hatte ich noch nie gefrühstückt, der Küchentisch war zugedeckt mit meinen Büchern und meinen Papieren und meiner Schreibmaschine, ich war immer ein paar Straßen weiter zu Eduscho gegangen. Manchmal fuhren wir in ihrem gelben R4 über die Autobahn zum Flughafen und dort über das Kreuz, das das bekannteste Kreuz Deutschlands war, und wieder zurück und weiter in die Richtung, in die das riesige blaue Schild wies, auf dem als letztes Ziel Hamburg angegeben war; schauten auf die Großstadtskyline hinter den Schrebergärten, diesen von Menschenhand erschaffenen Horizont, auf den alle Frankfurter so stolz waren; ich

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