Abendland
nächsten Tag ab. Einen Monat lang ließ ich keinen Tag aus. Und irgendwann fiel mir nichts mehr ein. Als ich mit dem Brot fürs Frühstück nach Hause kam, hatte ich noch nicht einmal einen ersten Satz. Und am Nachmittag saß ich im Laumer vor meinem Heft, und Jacob redete nicht mehr mit mir. Dagmar meinte, das liege daran, daß ich immer noch für den Rundfunk und den Schulbuchverlag arbeite; Jacob sei in den Streik getreten, er verlange, daß ich nur noch für ihn da sei; ich müsse ab sofort alles andere sein lassen und mich nur noch dem Schreiben widmen. Aus mir werde der beste Schriftsteller der Gegenwart werden, ich werde sie alle wegwischen, den Grass, den Böll, den Walser, sogar den Enzensberger. Um das Leben, das wirkliche, solle ich mich nicht kümmern. Sie werde für mich sorgen. Sie werde ihr Studium aufgeben und eine Arbeit annehmen.
»Was für eine Arbeit denn?« fragte ich.
»Ich werde putzen«, trumpfte sie auf.
Sie stand vor mir, den Rücken gekrümmt, Kaffeeduft aus ihrem Mund, um den schönen Kopf ein Seidentuch mit heiteren indianischen Motiven in Purpur, Grün und Orange. Wenn einer dich größer vor dir erstehen läßt, als du bist, wird eine Verminderung daraus, sobald du es durchschaust. Alles sah sie größer als das Leben, sogar dessen Verkleinerung, und darum meinte sie, ich mißachte mein Talent sogar noch mehr, als sie es ohnehin vermutet hatte, und das trieb sie zu Maßlosigkeiten, an die sie selbst nicht mehr glaubte, die sie aber mit einer Absicht einsetzte: Ich weiß ja, daß er mir nicht glaubt; immer meint er, von allem, was ich sage, zwanzig Prozent abziehen zu müssen; wenn ich also zwanzig Prozent drauflege, landen wir ungefähr bei der Wahrheit. Ich aber zog weitere zwanzig Prozent ab, und sie legte noch einmal dazu, was nur bewirkte, daß ich weiter von mir subtrahierte. Und so steigerten wir uns hinauf und hinunter. Ich sagte: »Du kannst ja gar nicht putzen!«
5
Sie wollte nicht, daß ich mit ihr in ihre Wohnung in der Bockenheimer Landstraße komme. Der Grund war die Germanistin, mit der sie zusammenwohnte. Dagmar wollte nicht, daß ich diese Frau kennenlernte. Aber schließlich lernte ich sie doch kennen. Eine rundliche Schwäbin mit einem Kleinmädchengesicht, Pausbacken, steile, gewölbte Stirn, verwöhnter Schmollmund; schwer zu schätzen, wie alt, dreiundzwanzig oder dreiunddreißig; auf dem Näschen eine John-Lennon-Brille, die sie aber nicht wie Janis Joplin aussehen ließ, sondern wie ein fleißiges Kind (eine »Petze«, die sie ja auch war); ungeschminkt, ungepflegt; trug einen Rock und einen Pullover, beide im Karstadt-Wühlkisten-Stil, orange und grünlich; ihre Frisur war auf eine alberne Art bieder und wohl mit der gleichen Absicht geschnitten wie die Kleidung ausgewählt. Dagmar stellte uns einander vor. Die Germanistin saß mitten in ihrem Zimmer im Schneidersitz, als bete sie oder spiele Monopoly. Sie wandte ihren Kopf und schaute mir in die Augen, und ihr Blick sagte: Dich kenne ich, du bist Scheiße. Ihr Zimmer war leer, bis auf ein schmales Bett, einen Resopalküchentisch vom Trödler, einen Stuhl und einen Koffer. Keine Vorhänge, keine Bücher. An der Wand hing ein Poster, das einen lachenden Chinesen mit einer Schirmmütze zeigte, der ein gemustertes Tuch über der Schulter hängen hatte und einen Stab – oder war es eine Flöte? – in einer Hand hielt.
»Wer ist das?« fragte ich.
»Das ist der Bruder Nummer eins«, sagte sie.
»Wie viele Brüder hast du denn?« fragte ich. Dagmar warf mir einen flehenden Blick zu und gab mir Zeichen aufzuhören.
Die Germanistin sagte: »Laß ihn doch, Vorländer!« Sie sprach Dagmar nur mit dem Familiennamen an. »Wenn einer etwas wissen will, ist das gut und nicht schlecht. Sein Name ist Saloth Sar, aber die Freunde der Völker nennen ihn Pol Pot.«
Ich sagte: »Fühlt er sich nicht einsam, so allein an deiner Wand? Willst du nicht ein paar Spielkameraden für ihn dazuhängen?«
»Was meinst du damit?« fragte sie, ihre Stimme war ohne jede Modulation.
»Rechts Adolf Hitler, links Heinrich Himmler.«
»Gib mir deinen Namen, ich will ihn mir aufschreiben.«
»Damit ihr mich nach der Revolution finden könnt?«
»Ja«, sagte sie.
»Lukasser«, sagte ich. »Sebastian Lukasser, Lukasser mit k und Doppel-s, Danneckerstraße 11, 6950 Frankfurt am Main, Westdeutschland.«
Sie hat sich das tatsächlich notiert.
Dagmar stand daneben, biß sich auf ihre Unterlippe und sah verzagt aus; als wäre sie zehn
Weitere Kostenlose Bücher