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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Fensterfront standen ein alter Schwarzweißfernseher, ein Radio, mein Plattenspieler, ein kleines Sofa und als Besonderheit eine nachträglich vom Vermieter eingebaute Badewanne aus meerblauem Kunststoff, die einen zarten Geruch nach Chlor verströmte, der mich an ein Freibad im Sommer erinnerte; ich empfand das durchaus als angenehm. Auf die beiden Zimmer hätte ich verzichten können; ich hielt mich immer in der Küche auf.
    Ich hatte inzwischen definitiv mein Studium beendet – Geschichte und Latein – und tat kaum noch so, als ob ich an meiner Dissertation arbeitete. Ich war so nah bei mir selbst wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich lebte gern allein. Nach dem Selbstmord meines Vaters hatte ich den Himmel über meinem Kopf neu zusammensetzen müssen – eine Woche war ich bei meiner Mutter in Vorarlberg gewesen, eine Woche mit ihr zusammen bei Carl in Innsbruck, eine Woche in New York; immer wieder hatte ich den gleichen Satz vor mich hergesagt, wie eine Beschwörungsformel: »Das ist eben unser Leben.« Nach einem halben Jahr war diese Arbeit getan. Der Satz kam mir abgeschmackt vor; ich hatte alle Arznei aus ihm herausgesaugt. Ich war einigermaßen im Frieden und konnte wieder an meinen Vater denken – mit weniger Selbstvorwürfen, weniger Entsetzen, weniger Verwirrung und weniger Zorn. Und ich konnte mir das Foto ansehen, auf dem er seine Gibson in den Armen hielt und auf dessen Rückseite er mir als Geburtstagsgruß geschrieben hatte, ich solle mir einfach vorstellen, ich sei die Gitarre. Und ich konnte mir auch wieder Aufnahmen von ihm anhören – die letzten Aufnahmen, die er, wenige Monate bevor er an sein Ende gekommen war, zusammen mit Toots Tielemanns, der die chromatische Mundharmonika spielte, und einem Bassisten in einem Züricher Studio für eine Schweizer Plattenfirma eingespielt hatte.
    Was ich zum Leben brauchte, verdiente ich mir zum einen an der Universität als Tutor bei den Lateinern, zum anderen mit gelegentlichen Lektoratsarbeiten für den Hirschgraben-Schulbuchverlag (Geschichte für die Oberstufe) und mit einer Serie von Viertelstunden-Biographien über große Griechen und Römer, die ich mir aus dem Plutarch zusammenschrieb und jeden Donnerstag zum Hessischen Rundfunk in die Bertramstraße 8 brachte, wo sie von einem Schauspieler gelesen und am Sonntag in der Nacht sowie am Montag vormittag im Bildungsprogramm gesendet wurden. Alles in allem hatte ich damit mein Auskommen.
    Dagmar war dreiundzwanzig, ich siebenundzwanzig, als wir uns kennenlernten. Sie wohnte im Westend in der Bockenheimer Landstraße zusammen mit einer Germanistikstudentin (noch heute, wenn ich an sie denke, dreht sich mir der Magen um). Dagmar studierte Psychologie ohne zweites Fach. Sie sagte, sie finde es bescheuert, daß ich Latein studiert hätte. Ich sagte, ich könne das Wort »bescheuert« nicht besonders leiden, sie solle bitte ein anderes wählen. Sie sagte, sie wisse aber kein anderes Wort dafür. Ich schlug »idiotisch«, »krank«, »dumm«, »verrückt«, »beschissen« und »hirnverbrannt« vor. Ich sagte, ich zum Beispiel finde es idiotisch, krank, dumm, verrückt, beschissen und hirnverbrannt, Psychologie ohne zweites Fach zu studieren. »Am Ende kannst du gar nichts, ich kann wenigstens Latein!« – Das war im Dezember. Im November erst hatten wir uns kennengelernt.
    Im Café Laumer haben wir uns kennengelernt, zwei Blocks von ihrer Wohnung entfernt. Dagmar saß mitten im süßen Kuchenduft und fröstelte. Sie hatte die Ärmel ihres Pullovers über die Hände gezogen und machte einen krummen Rücken. Ihre Augen waren schattig, das sah weniger verrucht als verweint aus. Ich mochte es, wenn sie ihren krummen Rücken machte, vom ersten Augenblick an mochte ich es. Es wirkte lauernd und zugleich hilflos, kindlich kämpferisch, aber doch angsteinflößend, weil nicht abzuschätzen war, wieviel Bereitschaft zum Äußersten in dieser Körperhaltung ihren Ausdruck fand. Sie trank Tee, wärmte sich die Hände am Glas, las ein Buch und schrieb in ein kleines schwarzes Heft. Das Café war voll, und ich setzte mich an ihren Tisch. Ihre Haare, blond mit goldenen Streifen, fielen über ihren Pullover, sie waren dünn und glatt, und das bewirkte, daß sie noch schmächtiger aussah. Sofort lenkte sie das Gespräch auf Wesentliches. Aber wesentlich war für sie alles. Jedes Thema, jeder Gegenstand, die unscheinbarsten Angelegenheiten bekamen allein durch die Art, wie sie darüber sprach, existentielles Gewicht.

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