Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
Bett war frisch überzogen, im Kasten stapelten sich Unterwäsche und Socken, auch einige Hemden, ein Anzug, falls ich ins Theater gehen wollte, eine gefütterte Jacke für den Winter. Ich hatte eine eigene Dusche, eine eigene Zahnbürste, einen eigenen Bademantel, eigene Hausschuhe. Wann immer ich hierherkam, egal zu welcher Zeit des Tages oder der Nacht, brauchte ich nicht zu fragen: Darf ich bei euch übernachten? Ich stellte meine Sachen einfach in mein Zimmer.
    Ruhig war es in der Wohnung. Das hieß vor allem: Ruhig im Vergleich zu den Orten, von denen ich meistens hierhergekommen war – als Kind von Wien, später von dem kleinen Dorf Nofels in Vorarlberg, an beiden Orten hatte mein Vater gründlich dafür gesorgt, daß es nie ruhig war. Margaridas dunkle Stimme klang durch die Zimmer, als wäre diese Welt um sie herumgebaut worden, als ein Resonanzkörper für ihre Worte. Wenn sie mich in der Nähe glaubte, sprach sie mit Carl Deutsch, um nicht unhöflich zu sein; wenn sie meinte, mit ihrem Mann allein zu sein, sprach sie Portugiesisch. Ihr Gesicht wirkte herb und, als ihre Haare grau geworden waren, männlich. Sie war eine starke Raucherin, aber sie wollte nicht, daß die Wohnung nach ihren Zigaretten roch, also rauchte sie draußen auf der Terrasse unter dem Vordach, und ich leistete ihr dabei Gesellschaft. Die Zigarettenstummel türmten wir in den Aschenbecher. Sie legte Schallplatten auf, von denen sie meinte, daß sie mir gefielen, alte Jazzstandards, über die Carl spöttelte, obwohl wir ja wußten, daß auch er sie liebte, eben so sehr liebte, daß es seiner Meinung nach bereits einem Spleen gleichkam, über den man lachen sollte. Oder Blues, der damals eine Renaissance erlebte. Sunny Terry and Brownie McGhee. Muddy Waters. Und natürlich John Lee Hooker. Platten, die ich mitbrachte. Für Carls Geschmack zu primitiv. Als Phänomen ließ er diese Musik gelten. Als »die Wurzel«. Manchmal setzte er sich ans Klavier, ich spielte auf der Mundharmonika, und Margarida hustete dazu. Anfang der achtziger Jahre teilte mir Carl mit, sie wollten die Wohnung aufgeben und ein Haus außerhalb der Stadt, oben in Lans, am Fuß des Patscherkofels kaufen. Ich kannte das Haus, das er meinte. Und ich war betrübt, als hätte ich meine Heimat verloren …
    Carl wußte, daß mir Margarida seine Meinung interpretiert hatte; wenn ich mit ihm darüber sprechen wollte, war es meine Sache, damit anzufangen. Wir verbrachten einen ruhigen Abend miteinander. Nur einmal sagte er: »Wenn du in Frankfurt anrufen willst, tu’s einfach.« Ich rief nicht an. Ich dachte, wenn Dagmar mit mir sprechen will, findet sie heraus, wo ich bin. Ich dachte, fast immer besteht der Fehler des Liebenden darin, daß er nicht merkt, wenn er nicht mehr geliebt wird. Und weil ich diesen Fehler nicht begehen wollte, David, beging ich den Fehler, mir einzureden, deine Mutter liebe mich nicht mehr.
    Am nächsten Morgen nach dem Frühstück sagte Margarida, sie habe Lust, mich auf einen langen Spaziergang einzuladen. Nicht eine Wolke war am Himmel, und die Häuser warfen Schatten wie auf einem Bild von de Chirico. Wir gingen am Inn entlang, aus der Stadt hinaus, auf das Dorf Völs zu, am Flugplatz vorbei. Wir setzten uns ans Wasser auf eine Betonbrüstung, die Sonne heizte unsere Rücken auf. Neben uns Wurstsemmeln, Cola, Schokolade, Zigaretten.
    »Würdest du gerne weinen?« fragte sie.
    »Schon«, sagte ich.
    Margarida und ich waren uns immer sehr nahe gestanden. Sie war mir nie geheimnisvoll erschienen. Im Gegensatz zu Carl. Auch als Erwachsener legte ich noch gern meinen Kopf an ihre Brust. Ich kannte sie nur als zuwendungsbereit, redelustig, unsentimental, herzenswarm und manchmal ein bißchen ordinär. Ich hatte mich nie gefragt, woher sie kam, was sie erlebt hat, wer sie gewesen war, bevor sie Carl geheiratet hatte. Sie war da. Und sie war sicher. Mir war sie immer sicher gewesen (was ich über meine Mutter nicht sagen konnte und nicht kann). Carl hatte sie während der Zeit, als er in Portugal lebte, kennengelernt, und nach dem Krieg war sie ihm nach Wien gefolgt. Mehr wußte ich nicht, und mehr schien mir nicht notwendig zu wissen. – Und dann saßen wir auf der Betonbrüstung und blickten auf den Inn, dessen Wasser weich und geschwollen war, und sie begann zu erzählen. Erzählte von ihrem »großen falschen Schritt« …
    Drei Tage blieb ich in Innsbruck. Zum Abschied sagte Carl noch einmal zu mir: »Geh zurück zu ihr, Sebastian! Bleib bei ihr!

Weitere Kostenlose Bücher