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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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fragte: ›Wann?‹ Und er sagte: ›Jetzt. Jetzt eben fährt das Taxi am Bahndamm entlang. Ich kann es von hier aus gut sehen. Jetzt biegt es ab, jetzt kann ich deinen Vater sehen, er sitzt vorne neben dem Fahrer.‹ Und er sagte auch, daß er selbst nie im Leben in einem Taxi vorne gesessen habe.«
    »Das hat er vor dir erfunden.«
    »Nein, das hat er nicht erfunden. Ich habe dich gehört.«
    »Wie kannst du mich gehört haben?«
    »Ich habe gehört, wie du die Tür von dem Taxi zugeschlagen hast, und dann hast du seinen Namen gerufen. Und daß du dich freust.«

Viertes Kapitel
1
    Ja. Hab’ ich. Carl hatte oben vor seinem Haus gesessen und auf mich gewartet. Mit einer Hand schirmte er die Augen ab, mit der anderen winkte er mir zu, als ich aus dem Taxi stieg.
    Ich rief: »Carl! Mein Gott bin ich froh, dich zu sehen!«
    Über seine Beine war eine Wolldecke gebreitet. Darauf lag ein Handy.
    »Carl!« rief ich. »Ich habe mich so gefreut, du glaubst es nicht!«
    Sein Körper war eingehüllt in den moosgrünen Hausmantel, den ich so gut kannte – auch dieses Stück: das fünfte oder sechste oder zehnte, geschneidert exakt nach der Vorlage des ersten. Neben ihm in der Sonne standen ein Korbsessel und ein Korbtischchen, auf dem Tisch zwei Tassen. Eine für ihn, eine für mich.
    »Beeil dich, Sebastian, der Tee wird kalt!«
    »Carl! Ich bin noch ein bißchen wackelig auf den Beinen, ich kann nicht so schnell!«
    Er saß im Rollstuhl und winkte mir zu.
2
    David hatte recht gehört: Ich habe mich gefreut. Und wie ich mich gefreut habe! Im Taxi von der Stadt herauf war eine Seligkeit in mir gewesen – wie damals, als ich zehn Jahre alt war und Carl und Margarida mich am Bahnhof in Innsbruck abgeholt hatten und wir gemeinsam, ich meinen Rucksack auf dem Rücken, Carl meinen Koffer in der Hand, feierlich durch die Stadt zu ihrer Wohnung in der Anichstraße gegangen waren, wo ich für ein Jahr bleiben sollte. Meine wirklichen Eltern glaubten, sie könnten ihre Ehe retten, wenn sie eine Zeitlang allein sein würden, und zwar auf Kreta (wo man damals in einem Jahr nicht mehr Geld zum Leben brauchte als in Wien in zwei Monaten). Es sei ihre eigene Idee gewesen, betonten sie immer wieder, sie seien an Carl und Margarida herangetreten, hätten gefragt, ob sie mich für ein Jahr bei sich aufnehmen würden. Carl hat das auch immer bestätigt – mit einer auffälligen Beiläufigkeit, aus der ich herauszuhören glaubte, dies sei die offizielle Version mir gegenüber, an die er sich halten wolle. Nach dem Zusammenbruch meines Vaters – es war im März 1960 – waren Margarida und er unverzüglich nach Wien gekommen. Und dann stand er da, unser Schutzengel, lehnte an der Küchentür und stellte allein durch die Blicke, die er uns gab, eine erste Ordnung her. Meine Mutter war nervlich gar nicht in der Lage, irgendeine Entscheidung zu treffen oder eine Idee zu entwickeln; sie hatte Hals über Kopf ihre Arbeit beim Gewerkschaftsbund im vierten Bezirk gekündigt, war aber, weil ihr Chef die Sache zu ihrem Vorteil gedreht hatte, mit ein paar Monatsgehältern abgefunden worden. Mein Vater war ein heulendes, sich krümmendes, sterbensalt gewordenes Kind, das seinen Kopf in meinen Schoß legte und durch dessen verschwitztes, zerzaustes Haar ich mit meinen Fingern fuhr. Nach einer Nacht, die keiner von uns vergaß, organisierte Carl vom Rudolfsplatz aus alles Notwendige. Mein Vater wurde von einem Wagen der Wiener Rettung abgeholt und ins AKH zu Professor Hoff gebracht, der ihn in ein Netzbett legte, mit Paraldehyd in Tiefschlaf versetzte und nach ein paar Tagen in die Nervenheilanstalt am Steinhof zur Entziehungskur überwies. Margarida blieb noch eine Weile bei uns, wohnte bei uns in der Penzingerstraße und kümmerte sich um meine Mutter. Carl mußte zurück nach Innsbruck, es war Semesterbeginn, und er hatte seine Vorlesungen und Seminare zu halten. Bevor er abfuhr, nahm er mich beiseite, ging vor mir in die Hocke und preßte meine Oberarme an meinen Körper. Er holte tief Luft, nickte aber nur. Was mir das Gefühl gab, er verlasse sich auf mich, und zwar als einzigen in unserer Familie. Meine Mutter wollte sich scheiden lassen. Seit mein Vater abgeholt worden war, hatte sie nichts anderes getan, als die Fäuste gegen ihren Hals zu pressen und durch die Wohnung zu marschieren und sich blaue Flecken an den Hüften zu holen. Immer befand man sich hinter ihr, immer drehte sie einem den Rücken zu und redete zum Boden hinunter oder zur Decke

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