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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Chaplin, Woody Guthrie –, aber es war nicht gut, daß sie welche hatten. Für sie selbst war es nicht gut, und für die Kinder war es auch nicht gut. – Das war Carls Meinung.
    In diesem März 1979, als ich im Zug von Innsbruck zurück nach Frankfurt saß, wurde mir klar, was Carl in Wahrheit meinte, wenn er mir, zwar »über die Bande gespielt«, aber deutlich genug, den Rat gab, daß ich heiraten und Kinder großziehen sollte. Er meinte damit, ich würde nicht in seine Sammlung passen. Er hatte Verantwortung für meinen Vater übernommen; mein Vater war tot; ich, sein Sohn, gehörte sozusagen zum erweiterten Lebensbereich des Genies, also hatte er auch für mich Verantwortung übernommen. Wer weiß, vielleicht pflanzte sich das Genie ja im Bocksprung über eine Zwischengeneration weiter; daß ich Vater werden würde, Mittelpunkt und Quelle einer zwar kleinen, aber nichtsdestoweniger hochwichtigen neuen Ordnung – Basis und Landeplatz für einen möglichen nachfolgenden Höhenflieger. Eine Zeitlang hatte er wohl noch Hoffnung auf mich gesetzt, hatte geglaubt, auch aus mir könne etwas Großes werden, ein großer Historiker zum Beispiel. Er hat mir auf die Sprünge geholfen, aber die Sprünge sind jämmerlich ausgefallen, und sie haben mich dem Ziel, das er für mich gesteckt hatte, nicht nähergebracht. Er hatte so eine blendende Idee für eine Dissertation gehabt! »Arthur Seyß-Inquart in Nürnberg. Die unveröffentlichten Gesprächsprotokolle des amerikanischen Gerichtspsychologen Abraham Fields beim internationalen Militärtribunal.« Ich hätte nichts weiter zu tun gehabt, als die aus dem Gedächtnis niedergeschriebenen Gespräche seines Freundes Abe herauszugeben und mit einem Vorwort zu versehen. »Diese Arbeit«, prophezeite er mir, »wird dir zu einem exzellenten akademischen Start verhelfen!« Ich habe die Sache verbockt. Und mir damit die letzte Chance genommen, mich als Mensch über den Durchschnitt zu erheben.
8
    Und dann, am Ende seines Lebens: »Du bist der einzige Mensch von all jenen, die ich geliebt habe, der noch lebt.« – Das ist doch wieder so ein komischer Satz! Ein komischer Satz von einem komischen Heiligen! Aber, David, versuch einmal, den Satz anders zu formulieren! Das war immer so: Carl sagte etwas, was einem gewunden und verdreht vorkam, aber wenn man darüber nachdachte, mußte man zugeben, er hatte sich exakt ausgedrückt. Einmal – ich war gerade so alt wie du jetzt – sagte er zu mir, und zwar ohne jeden Zusammenhang: »Wir befinden uns im Mittelfeld der Materie, zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, und unsere Augen geben uns ein ausreichendes Bild, so daß wir nicht ständig Angst haben müssen, in die Zwischenräume der Moleküle und Atome zu fallen.« Alles, was er sagte, hatte Gewicht für mich. Eine Woche lang dachte ich über den Satz nach. Schließlich fragte ich ihn, was er genau bedeute, und er antwortete: »Es war eine Art Scherz.« Und ich war mir wieder nicht im klaren, wie ich dran war; denn wenn es eine Art Scherz war, war es eben doch kein Scherz, und eine Art Scherz konnte eigentlich alles sein.
    David fragte: »Das hat er zu dir gesagt? Daß du der einzige Mensch bist, der von allen, die er geliebt hat, noch lebt?«
    »Ja, so hat er es gesagt.«
    »Das hat er am Telefon zu dir gesagt?«
    »Ja, am Telefon.«
    Er schob mit dem Finger die Brotbrösel vor sich auf dem Tisch zu einem Häufchen zusammen. Er lächelte vor sich nieder, ein bubenhaft charmantes Lächeln. Er feuchtete den Finger mit der Zunge an, drückte ihn auf das Häufchen und leckte den Finger ab. Wir saßen in meiner Küche. Es war Mittwoch, der 18. April, seit fünf Tagen war er bei mir; seit fünf Tagen tat ich die Arbeit der Scheherazade. Um die Mittagszeit hatte das Telefon geklingelt, und Frau Mungenast hatte mir mitgeteilt, daß Carl in der Nacht gestorben war. David hatte geweint. Ob ich ihm erlaube, allein oben auf dem Dach eine Zigarette zu rauchen. Bald war er wieder heruntergekommen. Wir umarmten uns.
    »Zu mir hat er nämlich etwas Ähnliches gesagt. Auch am Telefon.«
    »Wann?«
    Er grinste ein wenig verschämt. »Als du im Taxi den Weg zu ihm hinaufgefahren bist.«
    »Ich verstehe dich nicht.«
    »Als du aus dem Krankenhaus gekommen bist. Von Innsbruck. Als du in Lans angekommen bist. Er sagte: ›Jetzt endlich bin ich mit denen zusammen, die von allen, die ich geliebt habe, noch leben.‹ Und ich sagte: ›Wie meinst du das?‹ Und er sagte: ›Dein Vater kommt zu mir.‹ Und ich

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