Abendland
Und vor allem: Will bei ihr bleiben!«
Ist das nicht eine komische Formulierung, David? Der Befehl, etwas zu wollen? Man kann sich selbst doch nicht auftragen, daß man etwas wollen soll! – Er selbst hat dieses Kunststück wohl hingekriegt.
7
Als ich zehn war und mein Vater in seinen bis dahin schlimmsten Alkoholexzeß stürzte und meine Mutter in ihrer Verzweiflung über ihren Schatten sprang und Carl anrief und der sofort zusammen mit Margarida zu uns nach Wien kam, da hörte ich ihn zu meiner Mutter sagen: »Georg hätte niemals ein Kind haben dürfen.« Er sagte das nicht in meiner Gegenwart, natürlich nicht, er wußte nicht, daß ich zuhörte. Übrigens: Mit meiner Mutter habe ich Carl immer nur in einem verbindlichen, harten, beinahe autoritären Ton sprechen hören, in dem auch nicht eine Spur von Ironie mitschwang; er sprach nicht gern mit meiner Mutter, er ging ihr aus dem Weg, so wie sie ihm aus dem Weg ging. Ein Arzt war gekommen, der hatte meinem Vater eine Beruhigungsspritze gegeben. Nun lag er im Wohnzimmer auf dem Sofa und schnarchte und wimmerte. Margarida saß neben ihm und wischte ihm den Schweiß von der Stirn. Carl und meine Mutter berieten sich im Badezimmer. Die Tür zu meinem Zimmer stand einen Spaltweit offen. Carl meinte wohl, ich schliefe bereits, es war ja auch schon gegen drei Uhr am Morgen. Es war klar, hier unterhielten sich zwei Menschen, die einen Revierkampf austrugen und die sich nur vorübergehend zusammengetan hatten, weil ihrer beider Interessen auf dem Spiel standen. Meine Mutter war der Meinung, Carl versuche, ihren Mann auf Ziele zu lenken, die nicht die seinen waren, und zwar mit Mitteln, die er nicht durchschaute; und Carl war überzeugt, daß sie seinen Schützling nicht begreife und ihn mit Bürgerlichkeit von seinen eigentlichen Aufgaben fernhalte. Im Augenblick allerdings ging es um die nackte Existenz dieses Mannes, und die zu erhalten war eben in ihrer beider Interesse. Carl wiederholte: »Georg ist nicht der Typ, der Kinder haben sollte.« Nachdem mein Vater nur ein Kind hatte, nämlich mich, hieß das: Er ist nicht der Typ für mich. Und das hieß: Ich war, was die eigentlichen Aufgaben meines Vaters betraf, störend. Ich bin nicht erschrocken, als ich das hörte. Ich war erst zehn, aber ich hatte meinen Vater im Suff winseln hören, und mir brauchte niemand zu erklären, daß in unserer Familie das Verhältnis Vater-Sohn umgedreht war, daß nicht er sich um mich, sondern ich mich um ihn kümmern mußte. Er konnte sich nicht um mich kümmern. Er konnte sich um niemanden kümmern. Er war mein Vater, aber ich sah ihn wie meinen kleinen Bruder. Ich hörte Carl weitersprechen: »Georg ist nicht erwachsen, und er wird es nie sein. Nie, nie!« Ich hörte die Begeisterung in seiner Stimme. »Man kann an Georg nicht die Maßstäbe anlegen, die man an dich und an mich anlegt.« Seine Begeisterung wurde unterdrückt von Vernunft, wurde zugedeckt von Sorge, aber sie glühte darunter weiter. Nicht daß Carl der Meinung war, Genie und Suff gehörten irgendwie zusammen. Das glaubt der Spießbürger. Es ist besser, wenn ein Genie nicht säuft. Das Saufen hat damit gar nichts zu tun. Die meisten Säufer sind keine Genies. Aber andererseits tut es dem Genie auch keinen Abbruch, wenn es säuft. Ein Genie ist ein Genie ist ein Genie. Und wir Mittelmäßigen können nichts anderes tun, als dem Genie den Rücken freizuhalten. Dazu gehört, es vor allzu schlimmen Alkoholexzessen zu schützen; und dazu gehört eben auch, es vor der Stumpfheit der bürgerlichen Familie zu schützen. Und eine bürgerliche Familie besteht aus Mann, Frau, Kind.
Dein Großvater, David, war nämlich ein Genie. Das war er wirklich. Nicht nur in Carls Einbildung. Aber in Carls Einbildung war er der Mann, für dessen Genialität er die Verantwortung übernommen hatte. In der Geschichte des österreichischen Jazz wirst du keinen zweiten Gitarristen vom Format deines Großvaters finden. Frag sie! Frag Karl Ratzer, Karlheinz Bonat, Harry Peppel, Harri Stojka, Karl Ritter, Wolfgang Muthspiel! Sie werden mir recht geben. Und wenn du nach New York kommst oder nach Chicago oder nach London und dich in einschlägigen Kreisen erkundigst, wirst du hören, wie der Name George Lukasser in einem Atemzug mit Wes Montgomery, Barney Kessel, Kenny Burell, Tal Farlow, ja sogar Charlie Christian und Django Reinhardt genannt wird. Natürlich kann ein Genie Kinder haben. Sie haben ja alle Kinder gehabt – Picasso, Goethe,
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