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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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mit einem anderen schlafe, ist es also absurd?«
    »Wenn du es tun willst, tu es! Tu es aber nicht, weil du mir eins auswischen willst!«
    »Wenn ich es tun will, tu ich es, und ich frage dich nicht, warum ich es tue.«
    »Wir reden über Taten, die wir nicht begangen haben. Weder ich noch du. Ich möchte dich nur daran erinnern.«
    »Also: Hast du sie gebumst?«
    »Wen?«
    »Die, mit der du dich über den Föhn in deiner Heimat unterhalten hast.«
    »Nein!«
    »Und warum nicht? Ist sie häßlich?«
    »Sie ist nicht häßlich. Ich habe es nicht getan, weil ich es nicht tun wollte.«
    »Und warum wolltest du es nicht tun?«
    Und so weiter … Acht Stunden lang!
    Um zwei Uhr morgens habe ich die Wohnungstür hinter mir zugeworfen und bin aus dem Haus. Ich bin zum Bahnhof gelaufen. Und bin mit dem Zug um 3 Uhr 15 nach Innsbruck gefahren, mit Umsteigen in Lindau.
    Carl war damals bereits emeritiert. Er und Margarida wohnten noch in der Stadt in der Anichstraße. Als ich an ihrer Wohnungstür klingelte, waren sie gerade beim zweiten Frühstück. Margarida öffnete, und ich sah durch den Flur und das Wohnzimmer meinen alten Freund auf der verglasten Dachterrasse sitzen. Die Märzsonne breitete sich golden über die weiße Tischdecke und die weißen Teller, über das blinkende Besteck, den Korb mit den Kaisersemmeln, die porzellanenen Eierbecher, die Orangensaftgläser, die Marmelade- und Honigtöpfe. Es roch nach Bienenwachs. Ich mußte mich sehr zusammennehmen, um nicht zu weinen.
    Carl rückte einen Sessel vom Tisch ab und wies darauf, noch ehe er mich begrüßte. »Setz dich, Sebastian«, sagte er, »der Kaffee ist noch heiß.«
    Er war ein logischer Geist, durch und durch, und zu jeder Situation legte er sich alle möglichen Vorgeschichten zurecht. Er wußte, daß etwas passiert war. Warum sollte ich sonst einen Nachtzug von Frankfurt nach Innsbruck nehmen? Und das ohne telefonische Vorankündigung. Merkwürdigerweise ist es mir nie schwergefallen, mit ihm über meine persönlichen Angelegenheiten zu sprechen. Er fragte mich auch diesmal nicht. Ich begann von mir aus zu erzählen. Ich erzählte den beiden von deiner Mutter, David, und daß wir ohne zu streiten auch nicht einen einzigen Tag zusammen verbringen konnten.
    Carl sagte: »Geh zu ihr zurück!«
    Ich frühstückte mit den beiden, danach legte ich mich für zwei Stunden hin.
    Margarida weckte mich. Sie klopfte an die Tür, setzte sich auf die Bettkante, zerstrubbelte mein Haar. »Mein Kleiner«, sagte sie.
    »Ich kenne mich bei ihm nicht aus«, sagte ich. »Ich hätte schwören können, er rät mir, die Sache zu beenden.«
    »Er meint«, sagte sie, »du brauchst eine Frau. Du wirst immer eine Frau brauchen, meint er. Du bist nicht der Typ, der allein leben will, weil du nämlich nicht allein leben kannst. Wenn du nicht zu ihr zurückkehrst, wirst du früher oder später eine andere Frau kennenlernen und wirst denken, diesmal wird es besser, aber es wird nicht besser werden. Und beim drittenmal wird es auch nicht besser werden. Es wird so lange nicht besser werden, bis du merkst, daß Streiten eine mögliche Form des Zusammenlebens ist, die mit den Worten ›besser‹ oder ›schlechter‹ nicht charakterisiert werden kann. Also erspare dir die Umwege und die Irrwege. Das meint er.«
    »Und du?«
    »Ich meine, du sollst nicht zu ihr zurückkehren. Es wäre ein falscher Schritt.«
    »Und wer von euch beiden hat recht?«
    »Ich.«
    Carl war in die Stadt gegangen. Ich half Margarida beim Kochen, schnitt Gemüse klein, zwischendurch rauchten wir eine draußen auf der Terrasse, sie ihre Falk, ich Rothändle (ich hatte Latein studiert, das war exzentrisch genug, da durfte ich mich beim Rauchen ruhig dem Geschmack des Zeitgeistes gemäß verhalten). Es war wie früher. Ich liebte diese Wohnung. Als Zehnjähriger hatte ich ein halbes Jahr hier gelebt, als wären Margarida meine Mutter und Carl mein Vater. Wir drei. Hier roch es nach Geborgenheit und Zufriedenheit, nach Geregeltheit und Vornehmheit. Und nach guten Erinnerungen. Die Wohnung lag mitten in der Stadt und umfaßte das oberste Geschoß eines Bürgerhauses. Von der Dachterrasse aus konnte man auf die Nordkette und weit über das Inntal nach Westen blicken. In »Sebastians Zimmer« standen Bücher, die von Tom Sawyers Abenteuer über John Dos Passos’ Manhattan Transfer bis zu einer Biographie über Arthur Seyß-Inquart meine Lektüre von der Kindheit bis zu meinen Dissertationsversuchen dokumentierten. Das

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