Aber bitte mit Sake
bekommt. Sie stützt sich gegen die Wand, als ob ihr schwindelig ist. Schnell greife ich nach Ihrem Arm, kann sie aber nicht halten.
»Kyoko, ist alles in Ordnung?«, mischt Henry sich ein und greift ihr unter die Arme. Er stützt sie, während sie langsam in sich zusammensackt.
»Kyoko!«, rufe ich aus. Schnell zieht Henry sie zu einem Stuhl, der ein paar Meter entfernt an einer Wand steht und platziert sie darauf; dann organisiert er ein Glas Wasser, das er ihr entgegenhält, während er ihr Luft zufächelt.
Kyoko nickt ihm dankbar zu. »Das war irgendwie zu viel für mich. Ich bin ja nun auch schon einundsiebzig«, bringt sie hervor. »Ich kann jetzt keinen Streit mehr vertragen, nach dieser Pleite mit den Zigarren.«
»Es tut mir so leid«, antwortet Henry jetzt zerknirscht. »Ich mache mich doch nur ein wenig lustig über Sie, das ist doch gar nicht böse gemeint.«
»Wissen Sie, mir geben die Regeln und Vorschriften einfach Halt im Leben. Das habe ich lange nicht gehabt.« Kyoko hält inne, überlegt, ob sie weiterreden soll. Dann atmet sie einmal tief ein und wieder aus und berichtet uns in Kurzform aus ihrem Leben. »Ich stamme aus einer guten Familie und hatte eigentlich alles, was das Herz begehrt. Mein Großvater war ein hoher Beamter bei der Polizei, meine Mutter Lehrerin, was selten war für eine Frau in dieser Zeit, und wir hatten Ländereien, von deren Ertrag wir mehr als gut leben konnten. Aber mein Vater wollte die Landwirtschaft sichern und suchte daher einen Ehemann für mich, der den Betrieb übernehmen konnte. Er wollte mich mit einem seiner Arbeiter verheiraten. Wegen des Geldes, nicht wegen der Liebe. Da bin ich fortgelaufen. Von diesem Tag an musste ich mich allein durchschlagen, als Tänzerin mein Geld verdienen. Und ich habe nie wieder etwas von meinen Eltern gehört.«
Stumm lauschen Henry, Gaki und ich Kyokos Geschichte. »Deshalb sind Sie Tänzerin geworden?«, frage ich fassungslos.
»Ja. Es war für mich eine Möglichkeit zu überleben. Ich habe mich nie unterkriegen lassen. Eine Tänzerin, die glücklich über die Bretter schreitet – das war mein Bühnenname. In Japan glauben wir nicht daran, dass wir in den Himmel kommen. Wir denken, wir bleiben auf der Erde. Deshalb ist der Kontakt zum Boden so wichtig. Auch das macht das Tanzen aus. Und für den japanischen Tanz existieren strenge Regeln und Riten, die befolgt werden müssen. Für mich sind sie wichtig. Sie geben mir Halt und Struktur und leiten mich, wenn ich mal nicht weiter weiß. Können Sie das verstehen?«
»Natürlich«, antworte ich leise. Während Kyoko ihre Geschichte erzählt hat, sind ihr zwischendurch die Tränen gekommen.
»Kyoko, es tut mir leid, ich habe das nicht gewusst.« Henry kniet vor Kyokos Stuhl nieder und blickt sie ernst an.
Sie greift nach seiner Hand. »Nein, Henry, Sie konnten das ja nicht ahnen. Vielleicht ist es ja manchmal auch ganz gut, dazu gezwungen zu werden, Grenzen zu überschreiten, die man sich selbst gesetzt hat.« Sie wirft einen leicht pikierten Blick auf seine Füße. »Auch wenn mir hübsches Schuhwerk wirklich besser an Ihnen gefallen würde.«
Kyoko und Henry halten sich immer noch an den Händen. Ich bin glücklich, dass die beiden sich versöhnt haben, und dankbar, dass Kyoko uns ihre Geschichte erzählt hat. Es erklärt einiges.
Ich tätschele ihren Arm. »Kyoko, Sie werden mir fehlen.«
»Sie mir auch, Dana. Wenn Sie mal in Tokio sind, müssen Sie uns unbedingt besuchen, meinen Mann und mich. Er ist ein guter Mann – und ein schlauer noch dazu. Wir haben die Rollen innerhalb der Ehe gut verteilt. Es ist viel wert, jemanden zu haben, mit dem man gemeinsam alt werden kann!« Sie lacht und steht auf. »So. Mir geht es schon wieder besser. Jetzt sollten wir aber wirklich losgehen.« Sie treibt uns zur Eile an. »Wir wollen doch Fidel Castro nicht verpassen!«
Als wir im Hörsaal ankommen, ist das kubanische Kamerateam, das eigens für die Veranstaltung angeheuert wurde, gerade fertig damit, sein Equipment aufzubauen. Trotz unserer kleinen Pause sind wir nicht zu spät. Auf die Langsamkeit der Japaner ist Verlass. Als wir Platz genommen haben, wird es still. Langsam öffnet sich eine Seitentür. Fidel Castro schlurft, gestützt von einer Untergebenen, in legerer Straßenkleidung und mit langsamen Schritten, auf die Bühne. Er begrüßt die Delegation des Peaceboats , ein paar Regierungsvertreter und die Hiroshima-Überlebenden, dann nimmt er auf einem bequemen Stuhl
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