Abgehauen
Kantonisten langatmig, kaum spürbar, aus dem Verkehr zieht. Denn Ziegengeist hat auch geschrieben: »Wir haben seit 1971 die Gruppe von Wolf bis Kirsch und Kunert und sonstwohin als die Spitze der DDR-Literatur hingestellt. Das war falsch.« Diese »falsche« Einschätzung wird die Degradierten nicht am Schreiben hindern. Im Gegenteil, soll die Partei den Dichtern nur Dampf machen, das bringt Druck, bringt Energie, bringt Arbeit. Bald werden wir die Ergebnisse dieser Arbeit finden: Bücher, die in der DDR nicht gedruckt werden. Die Verleger im Westen spucken schon in die Hände.
Den darstellenden Künstlern, die auf genossenschaftliche Arbeit angewiesen sind, können sie die Garotte ein bißchen schneller zudrehen. Wer redet von den kleineren Leute, die aus den Theatern flogen? Wer redet über Eva-Maria Hagen und Ingolf Gorges, die fristlos beim Fernsehen entlassen wurden? Wer redet über die unbekannte Petra Grote, Regieassistentin beim Fernsehen, die aus Widerwillen gegen die ND-Kampagne noch am 21. November die Liste unterschrieben hat und darauf fristlos entlassen wurde, deren Klage bei der Konfliktkommission abgewiesen wurde, deren Klage beim Arbeitsgericht abgewiesen wurde, deren Ausreiseantrag abgewiesen wurde und die jetzt dasteht? Das fühlt sich ein bißchen kurzatmig an, aber eigentlich ist es der Anfang des langen Atems, den der Genosse wirklich meint.
In Schlesingers Sammlung finde ich auch ein ND-Blatt vom 26.11.76 mit Worten des Denkers Hager: » …Die imperialistische Propaganda verspricht sich einen Erfolg, weil die Revisionisten und ultralinken Schreihälse den realen Sozialismus unter dem Deckmantel einer angeblichen Verbundenheit mit dem Sozialismus angreifen. Andererseits scheuen sich diese angeblichen Kommunisten und Anhänger des Sozialismus nicht, die Massenmedien der Bourgeoisie zu benutzen.«
Muß es Hager und den Seinen nicht hochwillkommen gewesen sein, daß die Petition über die bourgeoisen Medien verbreitet worden ist? Was wäre sonst an Vorwurf übriggeblieben? Welche Handhabe hätten sie sonst gehabt, so viele lautere Sozialisten als Verräter auszugeben? Womit hätten sie sonst ihren Schock überspielen sollen? Und weiß Gott, ich habe nicht geahnt, wie leicht unsere machthabenden, kampferprobten Arbeitersöhne zu schockieren sind.
Wir trinken eine Tasse Kaffee da oben in Schlesingers zehntem Stockwerk. Er brüht ihn selbst, seine Frau, die Sängerin Bettina Wegner, ist zu Konzerten unterwegs. Bettina, erzählt er, habe sich neulich in der Rößle-Klinik untersuchen lassen, und da habe ihr der Doktor zwischen A-sagen und Mammographie erzählt: »Na, der Krug ist ja nun auch im Westen und versucht sein Bestes, die vier Millionen rüberzukriegen, die er zurückgelassen hat, aber die werden sie ihm nicht hinterherschmeißen.« Woher er das habe, hat Bettina gefragt. Das hätte er in der Klinik auf der Parteiversammlung erfahren.
Wir gehen auf Schlesingers Balkon, von wo aus wir die frisch getünchte Mauer und den Zaun und den geharkten Boden dazwischen sehen können. Dahinter steht das Axel-Springer-Hochhaus, rechts in der Ferne das Europa-Center und hinten raus das ZK-Gebäude mit den zehn gardinenlo sen Fenstern, durch die der Schlesinger seinerzeit in den Sitzungsraum spähen konnte. Dort sah er manches Mal die Abstimmungshände von Kant, Apitz, Panitz, Strittmatter und all den anderen hochfliegen. Demnächst, sagt Schlesinger beim Abschied, wolle er mit Bettina nach Paris fahren, er habe dort wegen seines Kleist-Romans in Archiven zu stöbern. Es sehe ganz so aus, als wenn die Sache klappen würde.
Schade, ich hab nichts zu stöbern in Paris. Da ist das Leben so süß.
14. Mai 1977, Samstag
Die besten Auskünfte über das Wesen des Kapitalismus, die genauesten Schilderungen seiner Erbarmungslosigkeit werden im Westfernsehen geliefert. Die Selbstdarstellungen des Westens erschüttern uns mehr als unsere Drachengeschichten. Heute lief drüben im Dritten Programm ein Film über den CIA-Agenten und Trivialschriftsteller Hunt, der neben anderen Verbrechen den Putsch in Guatemala, die Invasion in der Schweinebucht und den Watergate-Einbruch auf dem Kerbholz hat, dem brutalster Antikommu-nismus Tagesgeschäft war, der ein kalter Killer war für die große Idee der Freiheit.
Da wird einem angst und bange, und als alter Träumer von einer besseren Welt beginnt man sich einsam zu fühlen. Muß man Opportunist sein, wenn man nicht überall zwischen den Stühlen sitzen will?
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