Abgehauen
sei ein patenter Kerl. Ich frage nicht, worum es ging, kann mir vorstellen, was das für ein Gespräch war. Da bin ich drüber weg, auf der Ebene würde ich jetzt nicht mehr katzbuckeln. Müller-Stahl erzählt mir, er würde auch mit einem Tagebuch anfangen.
Überhaupt habe ich selten einen Menschen getroffen, der mir so viel nachmacht wie er. Er will offenbar wissen, wie meine Geschichte ausgeht. Beim Lesen meiner Blätter ist er immer auf dem letzten Stand. Jurek und ich versuchen, uns aus Müller-Stahls unscharfer Beschreibung seines Zustands ein Bild zu machen. Wir haben den Eindruck, daß er angeschlagen und verwirrt ist, daß er mit sich und der Situation nicht fertig wird, daß er schwankt. Er ist mißtrauisch, äußert die Vermutung, Jurek und ich könnten Pläne und Gedanken haben, in die wir ihn nicht einweihen. Ich ahne, womit ich ihm helfen könnte: mit dem Rat, hier zu bleiben. Aber ich wage nicht, es auszusprechen. Wir sitzen eine Weile still am Tisch. Jurek bietet bei der Gelegenheit aus seiner Sammlung selbst erlebter Anekdoten die folgende über Bentzien:
Als Jurek noch im Vorstand des Schriftstellerverbandes war und Bentzien schon Hörspiel-Chef beim Radio, beklagte sich eines Tages ein junger Schriftsteller beim Vorstand darüber, daß man Änderungen an seinem Hörspiel verlangte, die nicht zu akzeptieren wären. Einige Vorstandsmitglieder lasen das Stück, von dem Jurek beeindruckt war. Er und seine Vorständler verabredeten sich daraufhin mit Bentzien in der Nalepastraße. Irgendwann in dem Streit sagte der, in dem Hörspiel gäbe es eine Szene, die man sowieso nicht senden könne: Ein Student versucht, westliche Literatur aus dem Ausland einzuführen, der DDR-Zoll beschlagnahmt die Bücher, es wird Kritik am Vorgehen der Zöllner geübt.
Jurek fragt, warum diese Szene nicht gesendet werden kann. Bentzien antwortet, die Maßnahmen des Zolls stünden im Einklang mit den Gesetzen der DDR, der Rundfunk sei ein staatliches Unternehmen und nicht dazu da, geltendes Recht zu torpedieren. Jurek fragt, was der unglückliche Schriftsteller tun soll, dessen Hauptfigur mit einem Gesetz nicht zufrieden ist. Bentzien sagt, das sei nicht sein Problem. Jurek fragt, ob man das nicht trotzdem in einem Drama schreiben könne. Bentzien sagt: Nein, in einem Drama muß man das nicht schreiben. Darauf Jurek: Wo denn sonst? Darauf Bentzien: Der kann, wenn es ihn so bewegt, eine Eingabe schreiben.
Der Mann mag nicht der richtige Minister gewesen sein, das Prinzip der sozialistischen Kulturpolitik hatte er jedenfalls verstanden.
11. Mai 1977, Mittwoch
Ich war lange nicht im Garten, weil ich ihn nicht mehr sehen mag. Ich habe keine Lust, mir zwanghaft künftige Erinnerungen einzuprägen. Aber Ottilie holt ihn in die Wohnung. Wo ich hinsehe, stehen Fliedervasen. Die Zeit, da der Garten geschont wurde, ist vorbei. Die Frau ist durch den ganzen Scheiß durch. Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich ich darüber bin. Jahrelanges Jammern habe ich erwartet, Vorwürfe, daß wir leichtfertig ein sicheres Leben weggeworfen hätten. Nein, sie trällert und schneidet Flieder.
Es sind Schulferien. Ottilie ist mit den beiden Töchtern zu ihrer Schwester gefahren. Wenn ich mit Frau Engel allein bin, nimmt sie sich meiner besonders liebevoll an, bringt Schnittchen und Tee, fragt immer wieder, ob es mir an etwas mangelt.
Im DDR-Fernsehen läuft ein amerikanischer Wikingerschinken mit Richard Widmark. So was, Manfred, kannst du überall auf der Welt zusammenschustern. Vielleicht kauft es der Adameck dann für harte Devisen, von denen wir so wenig haben, und präsentiert seinen Zuschauern den sozialistischen Exhelden Krug als inzestuösen Wikingerprinz. Ach, war’ das schön. Das wäre die umgekehrte Karriere zu Dean Reed, unserem weißen Friedensneger aus Amerika.
Herr Kasparek, der Fensterputzer, kommt, ein herzensguter Mensch, mit dem die kleine Fanny manchmal Schabernack treibt. Kaum ein Berliner Prominenter, der nicht seinem Lederlappen den ungetrübten Ausblick in die Wirklichkeit verdankte, die Prominenten auf der Petition ebenso wie die im NEUEN DEUTSCHLAND. Als ich ihn auf die Leiter klettern und an den Schabracken nesteln sehe, kommt mir der häßliche Gedanke, daß er ein idealer Wanzenkuckuck wäre.
Mein Vater kommt Tagebuch lesen, er findet sich und seine Leistung in der Nachkriegszeit treffend beschrieben. Überhaupt habe ich von meinen bisherigen Lesern noch keine Reklamation gehört.
Nachmittags ist
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