Abgehauen
Vorbereitungen für die Drehtage schienen ihm unnötig zu sein, er verließ sich auf seine spontanen Eingebungen, und beim Warten darauf verging die Zeit. Seine Planlosigkeit ist nur durch die Produktionsleitung übertroffen worden. Ich war schon froh, daß er mit dem Wodkasaufen bis zum Abend wartete. Dadurch konnte er zwar seine Kunstfertigkeit nicht steigern, aber den greisen Nachtwächter des Hotels prima krankenhausreif hauen, das konnte er. Wenn sich dann irgendein höherer Parteisekretär sehen ließ, hielt Koziger aus dem Hut eine unglaublich gedankenfreie, vorwärtsweisende Rede, mit der er alles wieder gutmachte. Immer wenn ich ihn sah, dachte ich: Manfred, paß auf, daß es dir gutgeht, dann brauchst du nicht noch einen Film bei Koziger zu drehen. Nachdem ich ihn kennengelernt hatte, bekannte ich mich nie mehr zum Arbeiter-und-Bauern-Staat. Diese rufschädigende Sperre hatte ich Koziger zu verdanken. Er mußte wissen, daß er mich nicht anrufen durfte. Selber schuld. Mittags ruft Genossin Krause an und bestellt mich zu morgen, 15.00 Uhr.
20. Mai 1977, Freitag
Fünf vor drei klopfe ich an die Tür. Wieder sitze ich ein paar Minuten auf Abruf. Diesmal in Gesellschaft von zwei Jungpolitikern, die sich gegenseitig ein frisches Referat vorlesen, also einen alten Standardtext darüber, wie der Frieden zu festigen sei. Hier und da streiten sie sich über die Interpunktion.
Lamberz hat einen vornehmen Anzug an, wir setzen uns auf dieselben Stühle. Lamberz. »Wie immer Cognac?« Ich: »Nein, bitte Wasser.« Lamberz: »Wie steht es mit dir?« Ich: »An meinem Entschluß hat sich nichts geändert.« Das Gespräch wird nur knapp zwei Stunden dauern. Ich kenne es schon. Um ihm zu zeigen, daß ich während der sechs Monate um Arbeit gekämpft habe, lese ich ihm Briefe an Regisseure und Produzenten vor, gleichlautende Briefe mit der bangen Frage, wie es mit mir als Schauspieler weitergehen soll. Ich bekam nur wenige Antworten, die alle abweisend waren. Darunter Absagen von guten Freunden. Die lese ich ihm ebenfalls vor.
»Ansonsten«, sage ich, »hat es keine Antworten gegeben, keinen Anruf, keinen Brief. Wie feige sind wir alle geworden. Gestern endlich hat Olav Koziger angerufen und sich scheinheilig erkundigt, wie es mit meiner Zeit stehe. Ein Wink von dir hat genügt. Ich kann all diesen Leute nicht mehr trauen. Du selbst hast versucht, mir Unkenntnis über meinen Antrag vorzutäuschen. Ich verstehe nicht, warum ihr uns erst zu klugen, denkenden Menschen erzieht, wenn ihr uns dann für dumm verkaufen wollt.« Für einen Moment habe ich das Gefühl, es gefällt ihm, daß so mit ihm gesprochen wird. Vielleicht bedauert er, keinen einzigen Freund zu haben, der mit ihm redet. Vielleicht geht es ihm auf die Nerven, daß er so viel Angst verbreitet. Daß er in einer Regierung sitzt, die Angst verbreitet. Vielleicht empfindet er für einen Moment die trostlose Lage, in die er und die anderen »hochgestellten Persönlichkeiten« sich selbst gebracht haben. Er schaut leer an mir vorbei.
»Ich habe deinen Ausreiseantrag bis heute nicht gelesen«, sagt er. »Stell dir doch nicht vor, daß dein Antrag hier zum Politbüro-Zirkular gemacht wird.«
Ich bin der letzte, der wichtig genommen sein will. Politbüro-Zirkular? Das brauche ich nicht, um mir als großer Künstler vorzukommen. Es ist überflüssig, meinen Fall hier kleinzureden, groß will ich ihn gar nicht haben. Außerdem ist klar, daß der Mann lügt. Wer sich so viele Stunden, statt zu regieren, mit einem einzigen Schauspieler herumbalgt, um ihn festzuhalten, der wird schon wissen, was ihm die Sache wert ist.
Dann breitet er aus, daß es keine Repressalien gegen mich und andere gegeben habe. Er hat sich vorbereitet, hat sich Material beschaffen lassen. Die winzigsten Beweise dafür, daß mein Vorwurf ungerechtfertigt ist, bringt er vor. Er liest von einem Zettel: »Den Film ›Das Versteck‹ durftest du zu Ende drehen. Die alten Konzertverträge durftest du erfüllen. Ich weiß sogar von einem einzelnen Konzert vor 200 Kreissekretären der FDJ.«
Kulturminister Hoffmann soll Frank Beyer und Jutta allen Ernstes vorgeschlagen haben, den Film »Das Versteck« ohne Krug noch einmal zu drehen.
Von den alten Konzertverträgen wurde mehr als die Hälfte gestrichen.
Und die 200 bestellten FDJ-Sekretäre haben mir den eisigsten, feindseligsten Abend meines Lebens beschert, die haben mich auf offener Bühne sterben lassen. Schließlich machte ich in dem Konzert die
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