Abgehauen
er nicht schon drin ist.
Kaum stand er 1976 schreiend auf der anderen Seite der Mauer – »Ich will zurück!« –, da fing es in der DDR zu grummeln an. Die unvergeßbaren Schriftsteller Hermlin (»Wo stehen wir heute?«) und Heym (»Im Kopf sauber«) trommelten zusammen, was sie in der Eile kriegen konnten: Erich Arendt (»Unter den Hufen des Winds«); Volker Braun (»Wir und nicht sie«); Fritz Cremer (Bildhauer, hat heimlich Kruzifixe getuscht); Franz Fühmann (»Seht her, wir sind’s«); Sarah Kirsch (»Das ist Lenins weiße Katze«); Günter Kunert (»Offener Ausgang«); Heiner Müller (»Der Bau«); Rolf Schneider (»Einer zuviel«); Christa Wolf (»Der geteilte Himmel«); Gerhard Wolf (»Der geteilte Himmel«).
Eigentlich waren es nur elf, aber Schneider platzte mitten in die Sitzung, nicht eingeladen noch angemeldet, was ihm Mißtrauen eintrug. Auch war den anderen das jüngermäßige Dutzend nicht angenehm, das er durch sein Erscheinen voll machte. Schneiders anerkannte Formulierkunst war verzichtbar, der Text schon fertig. Den gab man fernmündlich nach Jena durch an Jurek Becker (»Irreführung der Behörden«), der dort eine Lesung hatte und am Telefon zum Erstunterzeichner ernannt wurde, denn ihm, und nicht nur ihm, gefielen die folgenden Sätze auf Anhieb:
»Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter – das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein …« Das ist korrekt: … der Vergangenheit. Mit den gegenwärtigen Dichtern hatte er das Unbequemsein nicht so sehr gemein. Vielmehr war er ihnen darin voraus. Alle wollten ständig wissen: Wie unbequem darf momentan ein Dichter sein? Er war die Vorhut. Wenn er Richtung Front losging und es blieb ruhig, konnte man bequem hinterherrobben. Nein, den Biermann wollte keiner loswerden. Der war unverzichtbar für die Orientierung. Als sie uns den weggenommen haben, wurden wir alle zum ersten Mal richtig böse. Das hatte sich die Regierung nicht überlegt, in der, wenn überhaupt, nur wenige gewitzte Menschen zu finden waren. Wie standen wir auf einmal da. Man kann sagen schutzlos. Dem Proletariat konnte er schon deshalb nicht viel bedeuten, weil man ihn in den sozialistischen Produktionsbetrieben, wohin er eigentlich wollte, schon seit elf Jahren geheimgehalten hatte. Aber das bedeutete nicht viel. Er war vor allem für die Künstler wichtig. Wie das Nebelhorn für die Seefahrer. Sein Rausschmiß war die entscheidende Beeinträchtigung der gesamten künstlerischen Arbeit in der DDR, soweit sie diesen Namen verdiente. Sein Rausschmiß war Empörungsbeeinträchtigung. Nie mehr würde man ohne ihn herausfinden, wieviel Mißvergnügen noch gezeigt werden durfte. Bananen, Spargel, Zitronat, was ist das schon. Wenn nicht anders, konnte man es sich im Westen holen oder holen lassen, aber es ging auch ohne. Ohne Biermann ging es nicht.
»Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens 18. Brumaire, demzufolge die proletarische Revolution sich unablässig selbst kritisiert, müßte im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können.« Sicher, Biermann war unbequem für den sozialistischen Staat. Aber klingt es, nachdem wir jetzt wissen, für wen er bequem war, nicht wie eine riesige Verarschung, das eklige Wort Unbequemlichkeit hier hinzusetzen? Diese Schreiber, die jeden Tag stundenlang vor ihren Tintenfässern sitzen, können mit der Sprache spitzfindige Sachen machen. Man muß aufpassen. Damals ist mir das nicht so aufgefallen, da fand ich den Text so gut, daß ich ihn sofort unterschrieben habe. Die am meisten anachronistische Gesellschaftsform ist nämlich die, die sich selbst nicht am Leben erhalten kann. Wann hat eine Gesellschaftsform je so viel Mühe aufgewendet, um durch die besten Künstler ihre Vorzüge erläutern zu lassen; so viel Geld ausgegeben, sich Freunde zu machen; so viel Druck ausgeübt, die Feinde zu bekämpfen; so viel Beton gegossen, sich dahinter zu verstecken? Bei der DDR mußte ich manchmal an einen alten Hahnrei denken, der sich die Wertschätzung und die Treue seiner jungen Geliebten durch teure Geschenke erkauft, bis er selbst kein Dach mehr über dem Kopf hat.
»Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Wolf Biermanns und distanzieren uns von den Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu mißbrauchen.« Identifizieren und distanzieren waren die beiden unproduktivsten und zugleich wichtigsten
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