Abgeschaltet
Verbrennung von Kohle und Öl in Schwellenländern zu einer Million Todesfällen im Jahr führen. Solche Zahlen sind schwer zu ermitteln, daher stehe ich ihnen skeptisch gegenüber. Dennoch illustrieren sie, wie unmittelbar uns der Klimawandel betrifft.
Daher lautete die Grundfrage, mit der ich meine Recherche ein halbes Jahr vor dem Unglück in Fukushima begann: Wie kann der Umstieg zu einer Energieversorgung gelingen, die keine Kohlendioxidemission zur Folge hat? Keine, oder wenigstens minimale. Durch den nun vorgezogenen Atomausstieg ist diese Frage mitnichten beantwortet, sondern allenfalls dringlicher geworden. »Kohle statt Atom«, befürchtet Ernst Ulrich von Weizsäcker, »heißt die nirgends offen ausgesprochene Devise.« Eine berechtigte Befürchtung, denn die acht sofort abgeschalteten Kernkraftwerke hatten zusammen eine Leistung von 8,8 Gigawatt, die kurzfristig durch Stromimporte zu ersetzen sind. Neben französischem Atomstrom fließt seit März 2011 auch osteuropäischer Kohlestrom in unser Netz. Wenn die Nachbarländer im Winter weniger Strom abgeben können, wird bei Bedarf die »kalte Reserve« angeworfen, das sind eigentlich ausgemusterte, aber noch funktionsfähige Kohlekraftwerke. Wie aber sieht es langfristig aus? Wo nehmen wir unsere Energie 2020, 2030 oder gar 2050 her?
Weitere Fragen schließen sich an: Wieso brauchen wir überhaupt ständig Energie? Ist es nicht möglich, uns durch Energiesparen vor dem Klimakollaps zu bewahren? Was können erneuerbare Energien wirklich leisten? Welche Chancen bieten neue Speicher und Verteilernetze, um die fluktuierenden Energieströme aus Wind und Sonne der Nachfrage anzupassen? Wie können wir den vorläufig unvermeidlichen Umgang mit fossilen Brennstoffen so gestalten, dass möglichst wenig Kohlendioxid emittiert wird? Ist eine sichere Nutzung der Kernenergie eines Tages denkbar – zum Beispiel durch die Kernfusion? Wie kann die gesellschaftliche Akzeptanz für einen Umbau unserer Energieversorgung geschaffen werden? Und natürlich: Was ist zu tun?
Wer die unzähligen Energieexperten befragt, wird viele Antworten bekommen. So viele, dass kein scharfes Bild des Jahres 2030, schon gar nicht für 2050 entsteht. Deswegen versucht dieses Buch auch gar nicht, die einzelnen Aussagen letztgültig zu bewerten. Vielmehr soll deren Widersprüchlichkeit zu Tage treten und die Bandbreite möglicher Entwicklungen aufgezeigt werden. Dies steht in klarem Widerspruch zu einer Politik, die dem eigenen Bürger nichtzutraut, komplexe Sachverhalte zu durchdenken und mit einer offenen Zukunft zu leben. Wie wir sehen werden, sind alle einfachen Ansätze zum Scheitern verurteilt, wenn wir eine echte Energiewende herbeiführen wollen. Setzen wir einseitig auf Sonnen- und Windstrom, werden wir sie vielleicht nie erreichen.
Einfache Antworten bergen vor allem eine große Gefahr: dass sie einen offenen Diskurs unterdrücken, den eine demokratische Gesellschaft benötigt, wenn ein Projekt der Dimension Energiewende gelingen soll. Im Zweifelsfall verspielen wir unsere Zukunft, in ökologischer und ökonomischer Hinsicht, wenn wir uns gedanklich nicht über die Plattitüden-Ebene von Wahlkampfreden erheben.
Dieses Buch mutet Ihnen als Leser also viel zu. Zum Beispiel, dass in vielen Fällen heute noch völlig offen ist, wie reif eine bestimmte Technologie im Jahr 2030 sein wird. Und dass es daher schlicht unmöglich ist, heute zu berechnen, was eine Kilowattstunde Strom in zwanzig Jahren kosten wird. Keine Zumutung allerdings soll die Lektüre sein. So habe ich in vielen Fällen das Stilmittel der Reportage gewählt, um die Möglichkeiten und Begrenzungen der verschiedenen Formen der Energiegewinnung erfahrbar zu machen. Der Leser kann mich so in die Wüste Nevadas, an einen norwegischen Speichersee oder in ein modernes Kohlekraftwerk begleiten. Natürlich darf von einer solchen Darstellung nicht die systematische Vorgehensweise einer wissenschaftlichen Studie erwartet werden. Studien zum Energiesystem der Zukunft existieren in ausreichender Anzahl; sie werden, wo notwendig, auch zitiert werden. Mein Ansatz ist ein anderer: Ich möchte anhand einzelner, sorgsam ausgewählter Beispiele auf grundlegende Zusammenhänge aufmerksam machen. Daran, ob dies gelingt, will ich mich messen lassen.
Von den vielen Sach- und Fachbüchern zur Energieversorgung unterscheidet sich dieses aber nicht nur durch die subjektive Erzählperspektive. Sondern auch durch Klarheit und Neutralität. Was
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