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AUFBRUCH ZU EINER REISE IN DIE ENERGIE-ZUKUNFT
»Während der Balz-, Brut- und Fütterungszeit können Wendehälse sehr auffällig sein. Außerhalb dieser Periode bemerkt man ihre Anwesenheit kaum.«
Eintrag unter dem Begriff »Wendehals (Vogel)« bei Wikipedia.de
Am 11. März 2011 sitze ich zu Hause im Büro und recherchiere für dieses Buch. Mehrere Interviews sind vorzubereiten. Wie üblich schalte ich das Telefon ab und schließe mein Mailprogramm, um in Ruhe zu lesen und Notizen zu machen. Während ich mich zu norwegischen Speicherseen und britischen Windkraftwerken informiere, wird in Japan der atomare Notstand ausgerufen. Erst am späten Abend lese ich auf dem iPad die ersten Nachrichten vom Tsunami und der Notabschaltung des Atomkraftwerkes im Bezirk Fukushima. Ich gehe ruhig zu Bett, vertraue auf die Ingenieure einer der technisch hochentwickeltsten Zivilgesellschaften der Welt.
Erst am kommenden Vormittag, ich fahre mit meinem ältesten Sohn zum Supermarkt, höre ich Radionachrichten, die mich beunruhigen. Eine Kernschmelze halte ich ab diesem Zeitpunkt für möglich. Und ich ahne bereits, dass man mit der Wahrheit zurückhaltend umgehen wird.
Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt hält Angela Merkel eine Krisensitzung in ihrem Büro ab. »Das war’s«, so Merkels finaler Kommentar, wie der Spiegel berichtete – gemeint ist die zivile Nutzung der Kernenergie in Deutschland. Erst ein halbes Jahr zuvor hatte ihre Regierung den Betreibern von Kernkraftwerken eine signifikante Laufzeitverlängerung ermöglicht.
Wieder zu Hause fragt mich meine Frau aus. Was bedeutet es, wenn die Kühlsysteme in einem Atomkraftwerk ausfallen? Was genau ist eine Kernschmelze? Fragen einer naturwissenschaftlich ausgebildeten Ärztin, die sich mit Technik nie besonders beschäftigt hat. Am Abend möchte sie noch wissen, was Fukushima für mein Buch bedeutet. Dass über unsere Energieversorgung wieder intensiv diskutiert wird, antworte ich.
Was ich nicht ahne, ist die Dynamik, die Politik entwickeln kann, wenn sie eine Debatte, in diesem Fall über unsere Energiezukunft, durch Aktionismus im Keim ersticken will. Nur dreieinhalb Monate später verabschiedet der deutsche Bundestag deutlich geringere Restlaufzeiten. 2022 soll das letzte Kernkraftwerk vom Netz gehen. Alle Medien reden von der Energiewende, die angeblich beschlossen worden sei. Nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung bleibt gewohnt nüchtern und titelt: »Deutschland steigt zum zweiten Mal aus der Kernenergie aus«.
Genauso ist es. Von Energiewende kann keine Rede sein. Denn unsere Energieversorgung basiert nicht zu wesentlichen Teilen auf der Kernenergie, sondern auf fossilen Rohstoffen: Kohle, Gas und Erdöl. Deren Anteil am gesamten Primärenergieverbrauch Deutschlands betrug 2010 nach Auskunft der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen 78,2 Prozent. Die Kernkraft leistete vergleichsweise bescheidene 10,9 Prozent. Nimmt man nur die Stromerzeugung, dann verdoppelt sich zwar der Anteil der Kernenergie auf 22,5 Prozent, die fossilen Energieträger leisten aber noch immer 56,9 Prozent. Betrachtet man die Situation der gesamten Welt, ist die Lage nicht wesentlich anders: Während neue Kernkraftwerke Seltenheitswert haben, geht alle zwei Tage irgendwo ein Kohle- oder Gaskraftwerk ans Netz. 81 Prozent des Weltenergieverbrauchs basieren auf fossilen Quellen, nur 2,8 Prozent auf der Kernkraft. Nicht täuschen lassen darf man sich von dem scheinbar hohen Anteil der regenerativen Energiequellen mit 16 Prozent: Zehn Prozentpunkte basieren auf »traditioneller Biomasse«. Gemeint sind Holz und Dung, die in Entwicklungsländern zum Heizen verwendet werden. Ihr Anteil ist schneller rückläufig, als Kohle und Gas Marktanteile gewinnen. Von allen nicht erneuerbaren Energieträgern ist der Kohleverbrauch im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts am schnellsten gestiegen, nämlich um 46 Prozent. Der Erdgasverbrauch stieg im selben Zeitraum »nur« um 27 Prozent.
Dadurch, dass vier Fünftel unseres Energiehungers von Erdöl, Kohle und Gas gestillt werden, verursachen wir den Klimawandel, ein Problem, das Menschen und ihre Umwelt vermutlich weitaus stärker betreffen wird als einzelne, wenn auch überaus tragische Unfälle im Umgang mit der Kernkraft. Immer wieder stoße ich auf Berechnungen, die besagen, dass es bereits heute mehrere Hunderttausend Tote infolge der durch den Klimawandel bedingten Naturkatastrophen gibt, jährlich wohlgemerkt. Darüber hinaus soll die ungefilterte
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