Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
als ihre Mutter.
Fiona lächelte bei dem Gedanken daran, ihm alles genau zu berichten, wenn sie ihn morgen wiedersah. Das Paketklebeband hatte sie gar nicht gebraucht, um den Loser vorher zu fesseln. Jetzt musste sie sich aber beeilen. Schließlich stand das Abendessen längst auf dem Tisch.
1. Kapitel
Zehn Tage später. Helgoland.
D
as Blut gefällt mir nicht!
Linda betrachtete erschöpft das Opfer. Stunden schon mühte sie sich mit dem Mann ab. Mit dem Messer in seinem behaarten Bauch war sie zufrieden, auch mit den hervorquellenden Gedärmen und den glasigen Augen, in denen sich die Mörderin spiegelte.
Aber das Blut sieht nicht echt aus. Ich hab’s schon wieder versaut.
Wütend riss sie das Papier vom Zeichenblock, zerknüllte es und warf es auf den Boden neben ihren Schreibtisch zu den anderen misslungenen Versuchen. Sie zog sich die Stecker ihrer Kopfhörer aus den Ohren und tauschte die düstere Rockmusik gegen das Rauschen des Meeres. Dann schenkte sie sich heißen Kaffee aus der Thermoskanne nach. Sie wärmte die klammen Finger am Becher, bevor sie gedankenverloren den ersten Schluck nahm.
Verdammte Gewaltszenen.
Die Darstellung des Todes hatte ihr schon immer die größten Schwierigkeiten bereitet, dabei kam es genau darauf an. Ihre Comics wurden vor allem von weiblichen Teenagern gelesen, und aus irgendeinem Grund hatte ausgerechnet das schwache Geschlecht eine Vorliebe für explizite Gewaltdarstellungen.
Je härter, desto Frau,
wie der Verlagsleiter nicht müde wurde zu betonen.
Sie selbst bevorzugte Naturszenen. Nicht die lieblichen Rosamunde-Pilcher-Motive, keine Blumenwiesen oder wogenden Kornfelder. Sie war von den Urgewalten des Planeten fasziniert. Von Vulkanen, Steilklippen und Wellenbergen, von Geysiren, Tsunamis und Zyklonen. Und in dieser Hinsicht bot sich ihr gerade eine atemberaubende Vorlage. Von dem kleinen Atelier unter dem Dach genoss sie einen großartigen Blick über die tosende Nordsee vor Helgoland. Das schmale, zweigeschossige Holzhaus war eines der wenigen freistehenden Gebäude oberhalb der Westküste der Insel. Es stand am Rand eines dieser unzähligen Krater, die die Bomben der Engländer nach dem Zweiten Weltkrieg ins Mittelland der Insel gerissen hatten.
Während Linda den blauen Bleistift spitzte, mit dem sie stets die ersten Konturen eines Bildes zeichnete, sah sie durch das Sprossenfenster zum Meer.
Wieso bezahlt mich niemand dafür, diese Aussicht festzuhalten?,
fragte sie sich nicht zum ersten Mal, seitdem sie hierhergeflüchtet war.
Die schäumende See und die tiefhängenden Wolken erzeugten eine sogartige Wirkung. Es schien, als wäre die Insel in den letzten Tagen weiter ins Meer vorgerückt. Das Wellensturzbecken direkt neben dem Südhafen war vollgelaufen, und von den dreiarmigen Betonpfeilern, die zum Schutz der Küste ins Meer geworfen worden waren, ragten nur noch die ufernahen Spitzen heraus. Trotz der Unwetterwarnung hätte Linda sich am liebsten ihre Gummistiefel und die Outdoorjacke übergezogen und sich bei einem Spaziergang zum Strand den kalten Regen ins Gesicht wehen lassen. Doch dafür war es zu früh. Noch.
Du musst den großen Sturm abwarten, bevor du hier rausdarfst,
ermahnte sie sich in Gedanken.
Kein Tag verging, an dem der Katastrophenschutz nicht erneut im Radio dringend empfahl, Helgoland zu verlassen, bevor der Orkan mit dem harmlosen Namen »Anna« die Insel erreicht hatte. Und mittlerweile hatten die drastischen Vorhersagen Wirkung gezeigt. Dabei hatte zu Anfang kaum jemand den Meldungen Glauben geschenkt, die Insel könnte dieses Jahr vom Festland abgeschnitten werden. Doch dann riss ein Vorbote des Sturms das Dach über dem Südflügel des Krankenhauses ab. Auch wenn es in den anderen Gebäudeteilen nicht hereinregnete, war die medizinische Versorgung nicht mehr sichergestellt, denn Teile der Stromzufuhr waren gekappt, was beinahe zu einem Brand geführt hätte. Als schließlich nicht einmal mehr die Lebensmittellieferungen garantiert werden konnten, überdachten als Erstes die Alten ihre Entscheidung, auf der Insel zu bleiben.
Die wenigen Touristen wurden als Nächste evakuiert; ihnen schlossen sich die meisten einheimischen Familien mit Kindern an, und wenn heute Nachmittag die letzte Fähre ging, dürfte sich die Einwohnerzahl Helgolands auf knapp siebenhundert Menschen halbiert haben. Diese trotzten dem schlechten Wetter und den noch schlechteren Prognosen und hofften darauf, dass die Schäden schon nicht so
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