Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
Prolog
W o steckst du denn?«
Die Stimme ihrer Mutter passte zu den frostigen Temperaturen. Die Kopfhörer von Fionas Handy schienen die Kälte wie ein Magnet anzuziehen. Ihre Ohren waren schon so taub, dass sie die Stöpsel darin kaum noch spürte.
»Bin gleich zu Hause, Mama.«
Sie kam etwas ins Schlingern, als sie durch eine vereiste Bodensenke radelte. Ohne sich umzudrehen, prüfte sie, ob ihr Schulranzen noch sicher im Korb des Gepäckträgers verstaut war.
»Wann ist
gleich,
junge Frau?«
»In zehn Minuten.«
Ihr Hinterrad drehte durch, und sie überlegte, ob sie vor der Kurve besser absteigen sollte. Ihr flackerndes Vorderlicht warnte sie immer erst in letzter Sekunde vor Hindernissen auf dem kurvenreichen Pfad. Aber wenigstens war der Boden hier nicht so verschneit wie auf dem Fahrradweg entlang der Königsallee.
»Zehn Minuten? Du hättest schon vor einer Stunde zum Abendessen zurück sein sollen.«
»Ich hab Katrin noch Vokabeln abgefragt«, log Fiona. In Wahrheit hatte sie den Nachmittag bei Sandro verbracht. Aber das musste sie ihrer Mutter ja nicht auf die Nase binden. Die war ohnehin davon überzeugt, Sandro hätte einen schlechten Einfluss auf sie, nur weil er volljährig war und einen Stecker durch die Augenbraue trug.
Wenn die wüsste.
»Es piept, Mama. Mein Akku hat nur noch zwei Prozent.«
Diesmal sagte sie die Wahrheit. Ihre Mutter seufzte. »Beeil dich, aber nimm ja nicht die Abkürzung, hörst du?«
»Ja, Mama«, keuchte Fiona genervt und zog im Fahren den Lenker nach oben, um ihren Vorderreifen über eine Wurzel zu heben.
Mann, ich bin dreizehn und kein Baby mehr!
Wieso mussten ihre Eltern sie immer wie ein Kleinkind behandeln? Es gab kaum einen sichereren Ort auf der Welt als nachts im Wald, hatte Sandro ihr erklärt.
Logisch. Welcher Killer friert sich schon den Arsch ab in der Hoffnung, dass zufällig ein Opfer vorbeiradelt?
Statistisch gesehen geschahen weitaus mehr Straftaten bei Tageslicht oder in beleuchteten Innenräumen als im Dunkeln, und trotzdem glaubten alle, Gefahren würden vor allem in der Finsternis lauern. Das war genauso schwachsinnig wie diese ewigen Warnungen vor Fremden. Die meisten Sexualstraftäter waren Verwandte oder Bekannte, oft sogar die eigenen Eltern. Aber es warnte einen natürlich niemand davor, zu Mama und Papa ins Auto zu steigen.
»Beeil dich, Finchen«, waren die letzten Worte ihrer Mutter, dann verabschiedete sich der Akku endgültig mit einem letzten, langgezogenen Piepser.
Finchen.
Wann hörte sie endlich mit diesem bescheuerten Kosenamen auf?
Oh Mann, wie ich meine blöde Familie hasse. Wenn ich doch nur schon von zu Hause ausziehen könnte.
Wütend trat sie in die Pedale.
Der Pfad vor ihr wurde schmaler, schlängelte sich in einer Fragezeichenkurve zwischen dicht stehenden Kiefern und mündete in einen Forstweg. Kaum hatte Fiona den Schutz der Bäume verlassen, erfasste sie ein schneidender Wind, und ihre Augen begannen zu tränen. Daher sah sie die Rücklichter des Wagens zuerst nur verschwommen.
Der Kombi war grün, schwarz oder blau. Irgendetwas Dunkles. Das große Auto stand mit laufendem Motor neben einem Stapel geschlagener Baumstämme. Die Heckklappe war offen, und Fiona konnte im schwachen Kofferraumlicht sehen, dass sich etwas auf der Ladefläche bewegte.
Ihr Herz begann zu rasen, wie immer, wenn sie aufgeregt war.
Komm schon, du bist doch keine Memme. Du warst schon oft in brenzligen Situationen. Weshalb nur hast du immer wieder Angst bei so was?
Sie fuhr wieder schneller und hielt sich am äußersten Rand des Weges. Als sie noch wenige Meter entfernt war, passierte es. Ein Arm fiel aus dem Kofferraum.
Zumindest hatte es in dem unnatürlichen Licht des Wagens auf den ersten Blick so ausgesehen. Tatsächlich baumelte der Arm über dem verschmutzten Nummernschild, der Rest des Körpers lag noch auf der Ladefläche.
»Hilf mir!«, hörte Fiona den Mann im Kofferraum krächzen. Er war alt, jedenfalls nach Fionas Maßstäben, für die alles über dreißig schon in die Kategorie Scheintod fiel. Er sprach so leise, dass die Geräusche des Dieselmotors seine Stimme fast vollständig verschluckten.
»Hilfe.«
Im ersten Impuls wollte Fiona einfach weiterfahren. Aber dann hob er den Kopf,
den blutverschmierten Kopf,
und streckte den Arm nach ihr aus. Fiona musste an ein Poster in Sandros Zimmer denken, auf dem die Klaue eines Zombies aus einem Grabhügel stach.
»Bitte nicht weggehen«, krächzte der Fremde, jetzt etwas
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