Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
dramatisch ausfielen, wie die Meteorologen es vorhersagten. Ihr harter Kern traf sich täglich im
Bandrupp,
dem Gasthaus des gleichnamigen Bürgermeisters, zur Lagebesprechung.
Während die Zurückgebliebenen ihr Haus und Gut nicht kampflos im Stich lassen wollten und sich verpflichtet sahen, auch in schlechten Zeiten die Stellung zu halten, hielt es Linda aus einem gänzlich anderen Grund auf der Insel. Vermutlich war sie die Einzige, die den Orkan mit all seinen Folgen sogar herbeisehnte, auch wenn das bedeutete, dass sie noch eine ganze Weile länger nur von Konservendosen und Leitungswasser würde leben müssen.
Denn war Helgoland erst einmal komplett von der Außenwelt abgeschnitten, konnte das Grauen, vor dem sie geflüchtet war, nicht mehr zu ihr auf die Insel gelangen. Und erst dann würde sie keine Angst mehr haben, ihr Versteck zu verlassen.
»Genug für heute«, sagte sie laut und stand von ihrem Zeichentisch auf. Seit dem frühen Morgen hatte sie an der Szene gearbeitet, dem Showdown, in dem sich die amazonenhafte Heldin an ihrem Widersacher rächt, und jetzt, sieben Stunden später, war ihr Nacken steif wie Beton.
Eigentlich gab es keine Veranlassung, weshalb sie die letzten Tage wie eine Besessene durchgearbeitet hatte.
Es gab keinen neuen Auftrag, der Verlag wusste nicht, dass sie erstmals an einer eigenen Geschichte arbeitete, nachdem sie bislang immer nur die Manuskripte anderer Autoren illustrieren durfte. Verdammt, der Verlag wusste nicht einmal, dass sie überhaupt noch existierte, nachdem sie von einem Tag auf den anderen wortlos von der Bildfläche verschwunden war, ohne ihr letztes Projekt vollendet zu haben. Vermutlich würde sie jetzt, da sie einen wichtigen Abgabetermin hatte verstreichen lassen, nie wieder einen Auftrag erhalten, weswegen es ihr eigentlich freigestanden hätte, nur noch das zu zeichnen, was sie wollte. Doch wann immer sie sich hingesetzt hatte, um ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen, waren es nicht die von ihr so geliebten Naturmotive gewesen, sondern das Bild des sterbenden Mannes, das sich vor ihrem geistigen Auge aufbaute. Und auch wenn sie mit dieser Gewaltdarstellung ihre gewohnten Schwierigkeiten hatte, so spürte sie tief in ihrem Innersten, dass es genau diese Szene war, die sie unbedingt zu Papier bringen musste, wenn sie endlich wieder einmal eine Nacht durchschlafen wollte.
Erst wenn ich das geschafft habe, werde ich das Meer zeichnen. Zuvor muss ich mir die Gewalt von der Seele malen.
Linda seufzte und ging ein Stockwerk tiefer ins Bad. Am Ende eines Arbeitstags fühlte sie sich stets wie nach einem Marathon. Müde, ausgelaugt und dreckig. Auch wenn sie sich kaum bewegt hatte, brauchte sie dringend eine Dusche.
Das Haus war noch nie renoviert worden, was in dem spartanisch eingerichteten Bad besonders augenfällig war: Die Fliesen an den Wänden waren von einem Dunkelgrün, das Linda das letzte Mal auf der Toilette einer Autobahnraststätte gesehen hatte, und der Duschvorhang war zu einer Zeit in Mode gewesen, als Telefone noch Wählscheiben hatten. Immerhin wurde das Wasser in wenigen Sekunden warm, und das war weitaus besser, als Linda es von der Dusche ihrer Wohnung in Berlin gewohnt war. Unter anderen Umständen hätte sie sich in dem kleinen Haus mit seinen schiefen Wänden, den verzogenen Fenstern und den niedrigen Decken sogar ganz wohl gefühlt. Linda legte keinen Wert auf Luxus, und der Ausblick aufs Meer entschädigte für Blümchentapeten, ockerfarbene Sesselbezüge und den ausgestopften Fisch über dem Kamin.
Aber leider nicht für die dunklen Träume, die mir den Schlaf rauben.
Sie zupfte die dunkle Bluse, mit der sie bei ihrem Einzug den Spiegelschrank verhängt hatte, wieder zurecht, dann zog sie sich aus. Sie wusste, die letzten Monate hatten tiefe Spuren hinterlassen, und die wollte sie nicht täglich im Spiegel sehen.
Unter der Dusche schäumte sie zuerst ihre braunen, schulterlangen Haare ein, dann verteilte sie den Rest des Schaums auf dem dünnen Körper. Früher hatte sie etwas zu viel auf den Rippen gehabt, heute ahnte man nur noch beim Anblick ihrer ausladenden Hüften, dass sie einst »gut im Futter gestanden« hatte, wie Danny einmal scherzhaft gesagt hatte. Sie erschauerte bei der Erinnerung und drehte das Wasser noch heißer. Wie immer versuchte sie, beim Waschen das Gesicht auszusparen.
Um meine Wunden nicht berühren zu müssen.
Aber heute hatte sie nicht schnell genug reagiert, und etwas Schaum war vom Haaransatz
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