Abgründe
zu genießen. Sie wischte sich mit dem Blusenärmel über die Augen.
»Hast du ihn darum gebeten, Lína anzugreifen?«
»Ich habe ihn darum gebeten, uns diese Leute vom Hals zu schaffen. Ich bin auf keine Einzelheiten eingegangen. Sie hat meine Schwester erpresst. Sie hat mit Patrekur geschlafen. Ich glaubte, dass sie ihn mir wegnehmen wollte. Ich wollte diese Leute los sein.«
»Súsanna, deine Schwester hat sich auf Sexpraktiken eingelassen, die meist unweigerlich dazu führen, dass man solche Leute wie Lína kennenlernt. Und es war Patrekur, der sich in sie vergafft hat. Dafür kannst du ihr doch nicht die Schuld geben.«
»Sie sollte nicht sterben«, sagte Súsanna mit Tränen in den Augen.
Sigurður Óli sah, dass sie versuchte, gegen das Weinen anzukämpfen, vergebens.
»Ich habe ihn nicht darum gebeten. Ich war … Ich war einfach so wütend. Auf Patrekur natürlich, aber auch auf sie. Sie hat alles kaputt gemacht. Und sie wollte diese Bilder ins Internet stellen.«
»Hat vielleicht deine Schwester diese Idee gehabt?«, fragte Sigurður Óli.
Súsanna versuchte, tief durchzuatmen. Sie kämpfte mit den Tränen.
»Versuchst du, sie in Schutz zu nehmen?«, fragte Sigurður Óli.
»Sie wusste von Höddi, ich meine, von dem, was er für meine Freundin getan hat. Sie hat mich gefragt, ob ich mit ihm sprechen und sie dazu bringen könnte, diese Fotos auszuhändigen. Selber konnte sie das schließlich nicht tun. Höddi ist immer nett zu mir gewesen, zu allen in der Klasse. Ich hab einfach versucht zu ignorieren, was er macht oder was von ihm behauptet wird. Darüber möchte ich gar nichts wissen.«
»Sie steckt also auch drin?«
»Ja.«
»Der Mann, den Höddi losgeschickt hat, kriegte irgendwelche unklaren Anweisungen, wie er bei Lína vorzugehen hatte, er sollte die Fotos holen und ihr einen Denkzettel verpassen. Er hat zu fest zugeschlagen. Glaubst du, dass Höddi nicht die richtigen Anweisungen gegeben hat?«
»Das weiß ich nicht. Ach, ich hätte nie mit ihm reden sollen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie entsetzlich ich mich gefühlt habe.«
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Was soll ich tun? Was kann ich noch tun? Es ist alles vorbei. Mein Leben ist ruiniert, und das von meiner Schwester auch. Was sollen wir machen? Du musst uns helfen. Was können wir tun? Und alles nur wegen dieser Leute!«
Sigurður Óli schwieg. Es war ihm seinerzeit sehr nahegegangen, dass Súsanna sich von ihm abgewandt hatte. Aber er hatte es nie zur Sprache gebracht, weder ihr noch seinem Freund gegenüber. Nachdem sie und Patrekur ein Paar waren, hatte er nur ein einziges Mal mit ihr über diesen einen Kinobesuch gesprochen. Das war einige Wochen später gewesen, Patrekur hatte eine Party gegeben. Súsanna war zu ihm gekommen und hatte ihm gesagt, sie hätte keine Ahnung gehabt, dass Patrekur und er Freunde waren. Spielt keine Rolle, hatte er geantwortet, und sie hatte ihn gefragt, ob zwischen ihnen alles in Ordnung sei. Er hatte zustimmend genickt. Vergiss es, hatte er gesagt.
»Ich kann dir keine Ratschläge geben, Súsanna«, sagte Sigurður Óli. »Nur den einen, der auf der Handliegt, dass du nicht versuchst, irgendwelche Dinge zu beschönigen, was dich, Patrekur und Höddi oder Lína betrifft. So war es, so ist es, und daran lässt sich nie mehr etwas ändern. Je eher du dich damit abfindest, desto besser.«
»Es war ein Unfall. Sie sollte nicht sterben. Auf gar keinen Fall!«
Sie schwiegen lange. Súsanna starrte immer noch zum Fenster hinaus auf die Stadt, die im Westen fast zu allen Seiten vom Meer umschlossen war.
»Du hast deine Gründe gehabt«, sagte Sigurður Óli.
»Die findest du aber nicht besonders stichhaltig.«
»Einige sind verständlicher als andere. Neulich landete ein kleiner Filmstreifen auf meinem Schreibtisch, auf dem ein Junge zu sehen war. Er war vielleicht zehn oder zwölf, er hat sein ganzes Leben gelitten. Die Sequenz dauert nur zwölf Sekunden, aber es ist alles zu sehen, was es dazu zu sagen gibt. Sein ganzes Leben im Kleinformat, seine Qualen. Niemand kümmerte sich um ihn, er wurde missbraucht. Das liefert vermutlich alle Erklärungen dafür, wie es ihm im Leben erging und wer er heute ist, Jahrzehnte später.«
Sigurður Óli stand auf.
»Ich habe es immer vermieden, in einen Klagegesang einzustimmen, aber in diesem Fall ist einfach nichts anderes möglich als die Teufelei, die ihm angetan wurde, in Rechnung zu stellen. Ich würde es verstehen, wenn er sich rächen wollte
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