Abgründe
genommen kurz vor dem Zusammenbruch, da es nicht instand gehalten worden war. An vielen Stellen stachen große Rostflecken ins Auge, die Farbe war auf großen Flächen abgeblättert und das Haus Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt. Sigurður Óli kam es so vor, als sei die obere Etage nicht bewohnt.
Nach ungefähr zwanzig Minuten beschloss er, zur Tat zu schreiten. Er stieg vorsichtig die Stufen hinunter, die überall abgebröckelt waren. Es gab weder ein Türschild noch eine Klingel. Sigurður Óli klopfte ein paarmal vernehmlich und wartete. Übler Geruch wie von faulendem Fisch machte sich in der Nähe des Eingangs bemerkbar.
Auf das Klopfen erfolgte keine Reaktion.
Er schlug noch einmal gegen die Tür, rief nach Andrés und wartete.
Nichts geschah.
Er legte das Ohr an die Tür und hörte von drinnen irgendwelche Geräusche. Er rief wieder nach Andrés, und nachdem er ein drittes Mal gegen die Tür gehämmert hatte, beschloss er, in die Wohnung einzudringen. Die Tür knarrte, als Sigurður Óli an der Klinkerüttelte. Sie war zwar verschlossen, doch es war ein simples Schloss, das sofort nachgab, als er sich mit der Schulter dagegen warf. Er blieb noch eine Weile auf der Schwelle stehen und rief nach Andrés. Dann betrat er den Keller.
Der Gestank war das Erste, was er bemerkte. Er schlug ihm entgegen wie eine Wand. Sigurður Óli rang nach Atem und stolperte rückwärts wieder nach draußen.
»Nicht zu fassen«, stöhnte er. Er nahm sich den Schal vom Hals, band ihn sich vor Mund und Nase und betrat ein weiteres Mal die Kellerwohnung. Er fand einen Lichtschalter in der kleinen Diele, aber als er ihn betätigte, geschah nichts. Vermutlich war der Strom abgeschaltet, dachte er. Er rief noch einmal Andrés’ Namen, erhielt aber keine Antwort. Die Wohnung bot ein Bild der Verwüstung. Sogar die Wände waren mit irgendetwas aufgebrochen worden, und an einigen Stellen waren die Fußbodendielen aufgerissen. Er musste über zersplittertes Holz und umgekippte Möbelstücke klettern, und durch den Schal hindurch spürte er, dass der Gestank immer schlimmer wurde, je weiter er in die Wohnung vordrang. Er blieb immer wieder stehen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und rief nach Andrés, doch er erhielt keine Antwort. Entweder hatte er sich irgendwo versteckt oder war durch einen Hintereingang oder ein Fenster entkommen. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass er sich in einem Raum befand, der wohl einmal das Wohnzimmer gewesen war. Die Vorhänge vor dem Fenster waren zugezogen, und er riss sie auf, um Licht hereinzulassen.
Das Chaos, das sich seinem Blick bot, war unbeschreiblich. Tische, Stühle und Schränke lagen wild durcheinander, man hätte meinen können, jemand habe mit einer Planierraupe in der Wohnung gewütet. Sigurður Óli stakste vorsichtig weiter. In einer Ecke lagen Decken, Essensreste und leere Brennivín-Flaschen, und Sigurður Óli stellte sich vor, dass Andrés dort gehaust hatte. Er ging zurück auf den Flur und öffnete vorsichtig die Tür zur Küche. Die war genauso übel zugerichtet. Sigurður Óli sah, dass Andrés durch das große Küchenfenster ins Freie gelangt war.
Er war entwischt.
Also ging Sigurður Óli vorsichtig ins Wohnzimmer zurück, obwohl der Gestank kaum auszuhalten war. Als er den Rückzug antrat, stieß er gegen etwas, was irgendwie nicht wie ein toter Gegenstand wirkte. Er schrak zusammen.
Als er nach unten blickte, sah er, dass er gegen ein menschliches Bein gestoßen war. Der Körper war in eine dreckige Decke gehüllt, nur die Beine ragten heraus. Sigurður Óli bückte sich und zog die Decke langsam weg. Nun wusste er auch, woher der Gestank gekommen war.
Er presste den Schal fest gegen Nase und Mund. Der Mann lag auf dem Rücken. Er war an einen Stuhl gefesselt, mit dem er offenbar umgekippt war. Die toten Augen standen halb offen und starrten zu ihm hoch, und mitten in der Stirn befand sich so etwas wie eine Ein-Kronen-Münze. Ein dreckiger Lederlappen mit irgendwelchen Bändern daran lag neben der Leiche.
Sigurður Óli erinnerte sich an das, was Andrés über eine Münze gesagt hatte. Seine Neugierde überstieg alleVorsicht am Tatort. Er bückte sich nach dem kleinen Geldstück und wollte es an sich nehmen, aber es steckte fest in der Stirn.
Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass es gar kein Geldstück war, es war völlig glatt. Sigurður Óli starrte auf die kreisförmige Stelle an der Stirn, und langsam aber
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