Abgründe
Sigurður Óli wusste außerdem, dass sie sich zwei Autos auf Kredit gekauft hatten.
Sie kam selbst zur Tür und schien nicht besonderserstaunt zu sein, ihn zu sehen. Sie trug eine Jeans und eine hübsche, hellblaue Bluse. Sie versuchte es mit einem Lächeln, das aber viel knapper und verlegener ausfiel als gewohnt. Trotz der Enttäuschung in der Vergangenheit hatte er Súsanna immer gern gemocht. Sie hatte einen entschlossenen Gesichtsausdruck und ein aufrichtiges Wesen, und er hielt sie für vernünftig, ehrlich und amüsant. Sie hatte dichtes, blondes Haar und dunkle Augen und war seiner Meinung nach überhaupt nicht gealtert. Er fand, dass sie eine gute Partnerin für Patrekur war. Soweit er wusste, war die Ehe zwischen ihr und Patrekur über all die Jahre hinweg gut gewesen. Zumindest hatte er bis zu dem Augenblick, als Patrekur ihm gestand, mit Sigurlína geschlafen zu haben, nie etwas anderes gehört.
»Du weißt wahrscheinlich, weshalb ich gekommen bin«, sagte er, nachdem sie ihn hereingelassen hatte. Er gab ihr wie immer zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange.
»Hast du schon mit Patrekur gesprochen?«, fragte sie.
»Nein.«
»Ich hatte gedacht, du würdest zusammen mit ihm kommen«, sagte Súsanna.
»Wäre dir das lieber gewesen?«, fragte Sigurður Óli.
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Können wir uns irgendwo hinsetzen?«
»Natürlich, komm herein.«
Aus dem Wohnzimmerfenster ging der Blick auf den westlichen Teil von Reykjavík. Sie setzten sich. Sigurður Óli hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan.
»Ich habe mich mit einem Mann unterhalten, der Hörður heißt. Er sagt, dass er dich schon seit der Grundschule kennt«, begann Sigurður Óli. »Er wird meist Höddi genannt. Er befindet sich in Untersuchungshaft in Litla-Hraun, er ist mitschuldig an dem Tod einer Frau, die Lína genannt wurde.«
»Ich kenne ihn«, sagte Súsanna.
»Er erzählte mir, dass ihr euch immer gut verstanden hättet. Auf eure Freundschaft in der Grundschule ist er nicht näher eingegangen. Er hat nur gesagt, dass ihr immer Spaß miteinander gehabt habt, wenn es Klassen-oder Jahrgangstreffen gab.«
»Ja«, sagte Súsanna.
»Er sagt, du hättest ihn einmal um eine Gefälligkeit gebeten. Es hatte etwas mit einer Freundin von dir zu tun, beziehungsweise deren Tochter.«
»Vielleicht wäre es doch besser, wenn Patrekur hier wäre«, sagte Súsanna.
»Wie du willst«, sagte Sigurður Óli. »Wir können ihn anrufen. Ich habe keine Eile, wir können uns Zeit lassen.«
»Du glaubst bestimmt, dass ich …«
»Ich glaube gar nichts, Súsanna.«
Sie sah ihn lange an. »Es war vor drei Jahren«, sagte sie schließlich. »Meine Freundin hatte große Probleme. Ihre Tochter war auf dem Gymnasium, und da gab es eine Clique, die ihr ständig gedroht hat und Geld von ihr wollte, obwohl sie ihnen nichts schuldete. Das Mädchen hatte solche Angst vor diesen Typen, dass sie sogar die Schule abbrechen wollte. Ich habe Höddi gefragt, ob er etwas für sie tun könnte. Ich wusste, dass er solche … Aufträge übernimmt, dass er manchmal Schulden bei Leuten eintreibt. Er hat sich der Sache angenommen, und danach wurde das Mädchen in Ruhe gelassen.Meine Freundin war sehr dankbar. Ich habe Höddi nie danach gefragt, was er gemacht hat.«
»Er hat dir also geholfen?«, fragte Sigurður Óli.
»Ja, oder besser gesagt, meiner Freundin.«
»Hast du ihn seitdem getroffen? Oder von ihm gehört?«
Súsanna zögerte.
»Hast du ihn ein weiteres Mal um einen Gefallen gebeten?«
Súsanna gab ihm keine Antwort.
»Ich komme gerade von ihm«, sagte Sigurður Óli. »Ich soll dir Grüße ausrichten und dir sagen, dass er so lange dicht gehalten hat, wie es möglich war. Er sagt, dass du dich mit ihm in Verbindung gesetzt hast.«
»Wahrscheinlich glaubst du, dass ich verrückt bin«, erklärte Súsanna nach langem Schweigen.
»Ich glaube vor allem, dass du einen Fehler gemacht hast«, sagte Sigurður Óli. »Hast du dich mit Höddi in Verbindung gesetzt?«
»Ja«, erklärte Súsanna. »Als diese entsetzlichen Leute meiner Schwester drohten, fiel mir ein, dass Höddi vielleicht ein Wörtchen mit denen reden könnte.«
»Und Lína angreifen?«
»Nein, er sollte nur mit ihr reden.«
»Hast du gewusst, dass er Gewalt anwenden würde?«
»Nein.«
»Du hast ihn nicht speziell darum gebeten?«
Súsanna hielt es nicht länger auf dem Sofa aus. Sie stand auf, ging zu dem großen Fenster und schaute hinaus auf die Stadt, ohne den Anblick
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