Abgrund der Lust
geschärft. Er filterte den Geruch der Sinnenlust heraus, Victorias leisen, regelmäßigen Atem, seinen Herzschlag …
Es war niemand im Zimmer außer ihm und Victoria.
Jetzt.
Er bezweifelte jedoch nicht, dass sie eben nicht allein gewesen waren.
Gabriel hatte das Zimmer so geplant, dass die Schlafzimmertür sich ins Arbeitszimmer öffnete, damit niemand sich im Schlafzimmer dahinter verstecken konnte. Auf der anderen Seite konnte sich durchaus jemand verstecken, jemand, der darauf wartete, dass Gabriel ins Arbeitszimmer kam.
Jemand, der mit einem Messer oder einer Schusswaffe bewaffnet war.
Gabriel hatte keine Angst zu sterben. Doch plötzlich hatte er atemberaubende Angst um Victoria.
In der Dusche hatte er ihr gezeigt, wie leicht es war, eine Frau – oder einen Mann – um Erlösung betteln zu machen; er wollte nicht, dass sie erlebte, wie leicht es war, eine Frau – oder einen Mann – um den Tod betteln zu machen.
Er stieß die Schlafzimmertür auf und fing sie gerade noch rechtzeitig ab, dass sie nicht an die Wand schlug und Victoria weckte. Hinter der Tür war niemand. Im Arbeitszimmer war niemand.
Aber es war jemand da gewesen. Die Gegenwart des zweiten Mannes lag in der Luft wie billiges Parfüm.
Der silberne Stock lehnte am Sofa; der Adams-Revolver und das Holster hingen über der Sofalehne. Sie waren unberührt wie Victorias Schlaf. Es gab nur einen Weg, seine Suite zu betreten – oder zu verlassen. Gabriel zog den Adams-Revolver aus dem Holster und riss die Tür auf. Allen lehnte an der Wand; auf seinem schwarzen Haar schimmerten mondsilberne Glanzlichter, seine dunklen Augen waren wachsam. Sofort richtete er sich auf.
Er war weder überrascht noch verlegen oder beunruhigt, seinen Herrn nackt mit einem Revolver in der Hand vor sich zu sehen: Huren, Zuhälter, Bettler, Mörder und Diebe ließen sichnicht leicht aus der Ruhe bringen. Während Gabriel sich des Holsters unter Allens schwarzem Gehrock nur zu bewusst war.
War nicht der zweite Mann, sondern Allen in seine Suite gekommen?
»Guten Tag, Sir«, sagte Allen höflich.
»Wie spät ist es?«, fragte Gabriel scharf.
»Nach vier, Sir.«
Gabriel hatte Gaston angewiesen, alles über Mitchell Delaney in Erfahrung zu bringen und ihm sofort Bericht zu erstatten.
Grauen krampfte seinen Magen zusammen. Das Töten würde weitergehen, solange der zweite Mann lebte. »Wo ist Gaston?«
»Er hat vor einiger Zeit versucht, Sie zu wecken, Sir«, sagte Allen gelassen.
Gabriels Augen verengten sich. Niemand hatte ihn zu wecken versucht …
Sofort fiel ihm ein, wo er geschlafen hatte.
Gaston hatte sicher an der Arbeitszimmertür geklopft, vielleicht aber auch nicht. Als er das Arbeitszimmer leer fand, war er wohl nicht in Victorias Schlafzimmer gekommen. Hatte Gabriel Gaston in der Suite gespürt?
»Wann hat Gaston versucht, mich zu wecken?«
»Er war mehrmals da, Sir.« Allens schwarze Augen wichen nicht aus. »Zuletzt war er vor einer Stunde hier.«
Es war also nicht Gaston, der Gabriel geweckt hatte.
Äußerlich zeigte Allen keinerlei Interesse an Gabriels Nacktheit oder der Tatsache, dass er von einer Frau kam. Aber der Geruch der Sinnenlust war unverkennbar.
Allen wusste, dass er bei Victoria gelegen hatte. Auch Gaston wusste, wo Gabriel geschlafen hatte, sonst hätte er ihn geweckt.
Das Gerücht, dass Gabriel eine Frau gekauft hatte, war in ganz London herum. Dass er mit ihr geschlafen hatte, würde sich noch schneller herumsprechen. Vielleicht sprach es sich schon jetzt herum. Gaston war der Einzige, der außer ihm einen Schlüssel zu seiner Suite besaß. Er könnte ihn Allen gegeben haben. Gaston vertraute den Männern und Frauen, die Gabriel einstellte.
»Warst du heute in meiner Suite, Allen?«
Allen zuckte nicht mit der Wimper. »Nein, Sir, ich habe keinen Schlüssel, Sir.«
Je weniger Schlüssel es zu seiner Suite gab, desto weniger Menschen würden getötet – oder bestochen – werden, um sie zu bekommen. Aber es war jemand da gewesen …
»Wie lange stehst du schon hier Wache?«, fragte Gabriel.
»Seit Mittag, Sir.«
»Wo warst du vor zehn Minuten?«
»Hier, Sir.«
Gabriel konnte es sich nicht leisten, seinen Bediensteten zu vertrauen, wie Gaston ihnen traute.
»Das ist unmöglich, Allen«, sagte Gabriel seidenweich, bedrohlich.
»Nein, Sir, das ist nicht unmöglich.« Allens Blick wich Gabriels nicht aus. »Ich war hier und habe Sie und die Frau bewacht, wie befohlen.«
»Wie erklärst du dir dann, dass
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