Abgrund der Lust
war nicht in die Nähe des Mannes mit dem blauschwarzen Haar gekommen.
Er wollte den Abzug ziehen.
Er wollte den zweiten Mann töten. Er wollte die reinigende Endgültigkeit des Todes. Gabriel drückte nicht ab. Stattdessen beobachtete er den grauhaarigen Mann. Er beobachtete die blonde Frau. Er sah, wie das Paar am Ausgang innehielt.
Hinter Gabriel wartete Gaston gespannt. Unter Gabriel drehte sich die blonde Frau anmutig um, das helle Seidenkleid wirbelte. Der Grauhaarige ging durch die Tür. Als er verschwand, fiel Gabriel ein, wer er war: Ein Mitglied des Hundred Guineas Club, eines Etablissements für homosexuelle Männer, die in Frauengestalt auftraten. Die Blondine fing Gabriels Blick ein.
Das Wiedererkennen traf ihn wie ein Schlag.
Es waren nicht die Augen einer Frau, die ihn anstarrten; es waren die Augen des zweiten Mannes. Als Prostituierte getarnt, nicht als Freier. Eine Frau, kein Mann. Dem Erkennen folgte die Erkenntnis.
Der zweite Mann hatte die verhüllte Frau nicht hergebracht, um Michael, den dunkelhaarigen Engel, zu töten: Er hatte sie für Gabriel, den blonden Engel, hergebracht.
Lächelnd warf der zweite Mann eine höhnische Kusshand und verschwand. Aus Gabriels Reichweite. Aus Gabriels Haus.
Während Gabriel zusah. Ohne ihn aufhalten zu können.
Ebenso wie er ihn nicht hatte aufhalten können, als er in einer Mansarde angekettet war und von ihm lernte, was die französische Madame ihn nicht hatte lehren können. Rage spannte seine Muskeln. Er hatte eine Falle aufgestellt, nur um selbst in die Falle zu tappen.
Der zweite Mann würde heute Nacht nicht Michael töten, aber er würde töten. Er würde niemandem das Leben schenken, der ihn identifizieren konnte.
Niemandem außer der verhüllten Frau … falls Gabriel sie nahm.
»Wie lautet die Nachricht?«, fragte Gabriel gepresst.
» Il dite …« Gaston räusperte sich. »Sie lautet: Gabriel, ich zitiere Shakespeare, einen Mann, den deine Schönheit und Expertise sicher inspiriert hätten: Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler.
Du hast eine wunderbare Bühne aufgebaut, mon ange, nun bringe ich dir eine Frau. Eine Hauptdarstellerin, wenn du so willst. Laissez le jeu commencer .«
Unmittelbar unterhalb von Gabriel schaute Michael sich suchend im Saal nach dem zweiten Mann um. Seine Unschuld krampfte Gabriels Magen zu einem Knoten zusammen. Michael hatte sich immer nur eine Frau gewünscht, die er lieben konnte. Gabriel hatte sich immer nur gewünscht, wie Michael zu sein.
Ein Mann voller Leidenschaft; ein Mann voller Unschuld. Ein Mann mit Seele.
Die verhüllte Frau stand allein, scheinbar unberührt von dem Wirbel, den sie verursacht hatte.
Angst fiederte Gabriels Fleisch.
Ich bringe dir eine Frau , hallte es in seinen Ohren nach. Laissez le jeu commencer .
Die Londoner Straßen waren voller Dirnen; Frauen schliefen auf den Schwellen der Armenhäuser. Doch der zweite Mann hatte diese Frau ausgewählt.
Sie war Jungfrau. Oder Hure.
Sie war angeheuert, um Gabriel zu töten. Oder sie war angeheuert, von Gabriel getötet zu werden. Sie war die letzte lebende Verbindung zum zweiten Mann.
Es gab nichts, was Gabriel nicht tun würde, um ihn zu erwischen. Und das wusste er.
»Ich biete zweitausend Pfund für die Frau«, schallte es über den Lärm unter ihm. Die Stimme gehörte Gabriel.
Er spürte zweihundert Augenpaare auf sich.
Gabriel war seit vierzehn Jahren, acht Monaten, zwei Wochen und sechs Tagen mit keiner Frau mehr zusammen gewesen. Die Freier wussten es. Die Prostituierten wussten es.
Der Mann, der ihn retten wollte, wusste es.
Der Mann, der zwei Engel töten wollte, wusste es.
Das Gesicht der Frau war in Dunkelheit gehüllt. Gabriel wusste nicht, was sie wusste. Bis jetzt. Aber er würde es erfahren. Bevor die Nacht vorüber wäre, würde er alles über sie erfahren.
Er hoffte um ihretwillen, dass sie eine Mörderin war. Es wäre besser für sie.
Wenn Gabriel sie nicht tötete, würde der zweite Mann es tun. Es wäre ein wesentlich schlimmerer Tod als der, den Gabriel ihr bereiten würde.
Laissez le jeu commencer .
Lasst das Spiel beginnen.
Kapitel 2
Leidenschaft.
Victoria schaute in silberne Augen und begriff, wieso respektable Männer und Frauen in das Haus Gabriel kamen.
Sie kamen, um Leidenschaft zu erleben.
Sie war gekommen, um ihr zu entrinnen.
»Sie können gehen, Gaston.«
Die seidige Männerstimme drang durch Dunst. Rauch. Wolle. Fleisch. Knochen.
Ein Raunen
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