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Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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den Verstand verloren? Wir hätten in die Station zurückkehren und eine Drohne holen können! Wir hätten den Sensor per Fernsteuerung anbringen können!«
    Clarke antwortet nicht. In der Ferne hinter Ballard nimmt sie eine Bewegung wahr. »Hinter Ihnen«, sagt sie.
    Ballard dreht sich um. Der Sackmäuler schlängelt sich durch das Wasser auf sie zu wie eine braune Rauchfahne, still und endlos. Clarke kann das Schwanzende des Geschöpfs nicht erkennen, obwohl bereits mehrere Meter des schlangenähnlichen Körpers aus der Dunkelheit aufgetaucht sind.
    Ballard tastet nach ihrem Messer. Einen Moment später folgt Clarke ihrem Beispiel.
    Einer riesigen, gezackten Schöpfkelle gleich, öffnet sich das Maul des Sackmäulers.
    Ballard will sich mit gezücktem Messer auf das Untier stürzen, doch Clarke hält sie mit der Hand zurück. »Warten Sie einen Moment. Er hat es nicht auf uns abgesehen.«
    Der Kopf des Sackmäulers ist nun bloß noch zehn Meter entfernt. Auch sein Schwanzende wird endlich in der Finsternis sichtbar.
    »Sind Sie verrückt?« Ballard reißt sich los, den Blick weiterhin auf das Ungeheuer gerichtet.
    »Vielleicht hat er keinen Hunger«, sagt Clarke. Sie kann die Augen des Tiers erkennen, zwei winzige Punkte, die sie von der Schnauzenspitze aus unverwandt anstarren.
    »Diese Viecher sind immer hungrig. Haben Sie etwa während des Unterrichts geschlafen?«
    Der Sackmäuler schließt sein Maul und schwimmt an ihnen vorbei. Dann macht er kehrt und bewegt sich in einem weiten, schlängelnden Bogen um sie herum. Er dreht den Kopf, und seine Augen richten sich erneut auf sie. Das Tier öffnet das Maul.
    »Scheiß drauf«, sagt Ballard und greift an.
    Ihr erster Hieb reißt eine einen Meter lange Wunde in die Flanke des Untiers. Der Sackmäuler starrt Ballard einen Moment lang an, als sei er überrascht. Dann wälzt er sich schwerfällig herum.
    Clarke schaut untätig zu. Warum kann sie es nicht einfach auf sich beruhen lassen? Warum muss sie immerzu beweisen, dass sie alles im Griff hat?
    Ballard sticht erneut zu – diesmal schlitzt sie eine riesige, tumorähnliche Geschwulst auf, wohl der Magen des Tiers, und befreit die Dinge in dessen Innern.
    Sie quellen durch die Wunde hervor: zwei Teleskopfische und einige unförmige Geschöpfe, die Clarke nicht erkennt. Einer der Teleskopfische ist noch am Leben und äußerst schlechter Laune. Er schlägt seine Zähne in den erstbesten Gegner, der ihm in die Quere kommt.
    Ballard. Von hinten.
    »Lenie!« Ballards Messerhand schwingt in abgehackten Bögen zu ihrem Rücken. Der Teleskopfisch wird in Stücke zerfetzt, seine Zähne haben sich jedoch fest verbissen. Der zuckende Sackmäuler stößt gegen Ballard und schleudert sie nach unten. Sie trudelt Richtung Meeresboden.
    Endlich setzt sich Clarke in Bewegung.
    Der Sackmäuler kollidiert erneut mit Ballard. Clarke kriecht über den Meeresboden auf sie zu und zerrt sie aus der Gefahrenzone.
    Ballards Messer zuckt immer noch zu ihrem Rücken. Von dem Teleskopfisch ist von den Kiemen abwärts lediglich ein zerfetzter Kadaver übrig, doch sein Maul hat nicht losgelassen. Ballard kann sich nicht weit genug verdrehen, um seinen Schädel zu erreichen.
    Clarke nähert sich ihr von hinten und packt den Kopf des Geschöpfs mit beiden Händen.
    Bösartig und stumpfsinnig starrt es sie an.
    »Töten Sie es!«, schreit Ballard. »Verdammt, worauf warten Sie denn noch?«
    Clarke wendet den Blick ab und drückt zu. Der Schädel in ihren Händen zersplittert wie ein billiges Plastikgehäuse.
    Es herrscht Stille.
    Nach einer Weile traut sie sich, wieder hinzuschauen. Der Sackmäuler ist verschwunden; er ist in die Dunkelheit zurückgeflohen, um seine Wunden zu lecken oder zu sterben. Doch Ballard ist immer noch da, und Ballard ist wütend.
    »Was ist eigentlich los mit Ihnen?«, fragt sie.
    Clarke öffnet die Fäuste. Knochenstücke und zerquetschtes Fleisch schweben um ihre Finger.
    »Sie sollen mir den Rücken decken! Warum sind Sie immer so verflucht … passiv?«
    »Tut mir leid.« Manchmal fährt man damit ganz gut .
    Ballard betastet ihren Rücken. »Mir ist kalt. Ich glaube, es hat meine Taucherhaut zerbissen …«
    Clarke schwimmt hinter sie und wirft einen Blick auf ihren Rücken. »Ein paar Löcher. Wie fühlen Sie sich sonst? Glauben Sie, dass etwas gebrochen ist?«
    »Es hat sich durch die Taucherhaut gebissen«, sagt Ballard wie zu sich selbst. »Und als dieser Sackmäuler mit mir zusammengestoßen ist, hätte er …«

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