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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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gerade angefangen, und wisst ihr, was im
Cervelat alles drin ist, in der Nationalwurst der Schweizer?, viel viel Eis und
Schwartenmagen, viel viel billiges Gewürz, dann wird das alles schön kleingehackt,
vermantscht, weil die Schweizer nicht wissen wollen, dass sie Tiere essen, und
am Schluss hat man so ein hellbraunes Wurschtli vor sich und sieht nichts mehr von der Wahrheit
(Vater, der sich in Freiburg und in La Chaux de Fonds ein Hotel kauft, das
lohnt sich nie, sagt Nomi, mal sehen, antwortet Vater), aber wer will das schon
wissen, fragt uns Vater, und warum wird man hier nie eingeladen und wenn, dann
zu Wienerli mit Kartoffelsalat?, warum haben hier die Hunde Vortritt? (und
Nomi und ich, wir lachen, weil Vater einem imaginären Hund einen Fusstritt
verpasst), hier kannst du zugrunde gehen, und die organisieren dir noch ein
korrektes Begräbnis (Vater, der in der Vojvodina nicht aufhört zu betonen, dass
in der Schweiz alles seine richtige Ordnung hat, da weiss man, wo die Strasse
anfangt, wo der Bürgersteig, und keine Bäume, die kreuz und quer wachsen), und
Vater würfelt über den Tisch hinaus, wischt mit dem Arm über das Spielbrett,
Vater, der doch keine Lust mehr hat, weiterzuspielen, weil er jetzt lieber
schwärmen will von den Errungenschaften der eigenen Kultur, unser Quark ist
doch ein Quark der Superlative, körnig, aromatisch, unsere Paprikawürste, die
sind weltberühmt, hört mal!, sogar amerikanische Filmstars essen unseren kolbäsz und wir Vojvodiner Ungarn sind
ja noch viel gastfreundlicher als die Ungarn, die in Ungarn leben, unsere
Sprache, die allen Studierten immer noch ein Rätsel ist; Mutter, die Vater
plötzlich unterbricht, mit einer feinen Stimme sagt, es sei unangenehm, ständig
zu schwitzen, wenn man Deutsch spricht, und wahrscheinlich schwitze man so,
weil man wisse, dass man falsch spreche, auch wenn man sich noch so Mühe gäbe,
und Mutter schaut uns alle der Reihe nach an, mit offenen Augen, als habe sie
gerade etwas Schockierendes begriffen — und das Spielbrett liegt vor uns, das
Papiergeld, die Figuren, die Würfel, Mutters Worte, die mitten ins Herz treffen
und zeigen, was Vaters Überhebungen im Grunde sind, nämlich die Hilflosigkeit
gegenüber erlittenem Schmerz, Enttäuschungen, die sich hinter diesen Sprüchen
verschanzen (und es gäbe so viel zu sagen über den Kurzschluss, dass ein
Mensch, der in einer Sprache Fehler macht, als dumm gilt, die Fehler meiner
Eltern, die in meinen Ohren eine eigene Schönheit haben; es wäre die
Gelegenheit zu sagen, dass Vater und Mutter, wenn sie Ungarisch sprechen, wie
verwandelt aussehen), und als könnte Nomi meine Gedanken lesen, sagt sie, wir
übersetzen euch simultan, das nächste Mal, wenn ihr zur Prüfung müsst, dann
musst du nicht mehr schwitzen, Mami, dann schwitzen die Herren, weil ihnen so
viele Wörter um die Ohren fliegen.
    Trotzdem haben wir nicht
gefeiert, als Vater und Mutter die Einbürgerungsprüfung beim zweiten Mal
geschafft haben, so, das ist erledigt, sagte Vater, und Mutter räumte die
Unterlagen weg, das Staatskundebuch, er setzte sich in seinen Sessel, sie aufs
Sofa, und wir sahen sie erwartungsvoll an, aber Vater knipste den Fernseher an,
Mutter langte nach ihrem Strickzeug. Und, fragte Nomi, und was, antwortete
Vater, wir sind ja noch keine Schweizer, die Schweizer müssen erst mal noch
abstimmen für uns. Die Beamten waren jedenfalls sehr nett, sie haben uns zur
bestandenen Prüfung gratuliert, so Mutter.
     
    Hörst du, wie sie rufen, fragt
mich Dragana, wenn du genau hörscb, harsch du ihre Stimme, und Draganas Augen irren umher
wie kleine, verlorene Kugeln. Unsere Familien rufen uns und was tun wir?, und
sie packt meine Hände, ich muss etwas tun, harsch mir zu? (Dragana, die unter der Woche
von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr abends in unserer Küche arbeitet und am
Wochenende, mit ihrem Mann, für ein Putzinstitut), ich kann doch nicht
zusehen, wie die meinen Sohn totmachen, erschiessen oder aushungern!
    Vor einem Jahr hat die
Belagerung von Sarajevo begonnen, sagte gestern die Stimme im Fernsehen, am 5.
April 1992.
    (Vater, der mit einem Ruck
aufsteht, das geht doch in keinen Kopf, sagt er, dass es ein Jahr später da
unten noch genauso aussieht, das ist doch nicht menschenmöglich, und Vater
geht auf die Wohnwand zu, die geduldige, dunkelbraune, zieht den Griff nach
unten, langt nach der Flasche, füllt seinen Whisky ins Glas, geht in die Küche,
zum Eisfach, und wir hören, wie er die Würfel aus

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