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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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— aber Janka?
    Dragana dreht sich von mir
weg, packt den Sparschäler, rüstet Kartoffeln und Karotten, die einfachsten
Tätigkeiten, die nicht mehr für sich stehen, nur davon zeugen, dass wir hier
nichts tun, denke ich, sagt sie, und ich sehe es plötzlich klar vor mir, die
beiden Welten, die einander gegenüberstehen und sich nicht vereinbaren lassen,
wir hier in der Schweiz und unsere Familien in Jugoslawien, im ehemaligen
Jugoslawien, wie man sagt, das sind meine Feinde, und Dragana zeigt auf die Kartoffelschalen,
fährt sich mit ihrem Handrücken über die Augen, ja, wir leben hier, wie die
Schweizer, im Zuschauerraum, denke ich, das ist zumindest eine Wahrheit.
    Draganas ganze Familie — dein
Sohn, wie heisst er? Danilo! —, die in Sarajevo lebt, und Dragana schneidet
mit der Spitze des Rüstmessers die Augen aus den Kartoffeln. (Die Olympischen
Winterspiele 1984, damals, als das Fernsehen noch eine Verheissung war, die
Resultate, die ich in die dafür vorgesehenen Listen eingetragen habe, wer hat
damals Weltrekorde aufgestellt? Ingemar Stenmark? Oder Bojan Krizaj? Die klare
Erinnerung aber an Mutter, die beim Anblick von Jane Torvill und Christopher
Dean so gerührt war — dass ein Paar so übers Eis schweben kann —, die Jury, die
einhellig die höchste Bewertung für die B-Note gegeben hat, ist das die
Möglichkeit, sagte Mutter, mit Tränen in den Augen — wo ist Sarajevo, fragten
wir damals Mutter, weil wir wissen wollten, wo dieses Wunder der Liebe möglich
geworden ist, und Mutter schlug unseren Schulatlas auf, und wahrscheinlich
fanden wir Sarajevo unter der Überschrift "Balkanländer".
    Jetzt, 1993, ist das
Olympiastadion zerstört, und direkt vor den Ruinen werden die Toten begraben,
wer hätte das gedacht, sagt man, wer hätte das für möglich gehalten, schreibt
man, und ich stelle mir vor, wie Jens Weissflog sich zum Sprung vorbereitet,
wie er noch einmal tief durchatmet, bevor er sich kräftig abstösst, einspurt,
tief in die Hocke geht, um dann abzuheben, Jens Weissflog, für immer und ewig
über den Dächern von Sarajevo.)
    Ich habe einen Brief bekommen,
von meiner sestra, sagt Dragana, soll ich dir
erzählen, was sie geschrieben hat? Nein, lieber nicht, denke ich, ich möchte
nicht wissen, was Draganas Schwester geschrieben hat. Du, Ildi, die haben fast
keine Bäume mehr, die brauchen alles zum Heizen, meine sestra sagt, die Stadt sieht aus wie
ein gerupftes Huhn, Parke und Strassen ohne Bäume, aber das ist nicht das
Schlimmste, die haben kein Wasser mehr zum Trinken, kein Wasser mehr, um ihre
Scheisse wegzuspülen, nicht einmal die Spitäler sind geheizt ... vielleicht
später, unterbreche ich Dragana, erzähl mir später davon! Dragana, die sich mit
einem Ruck umdreht, mich mit ihrem wirren Blick fixiert, du hast Angst, sagt
sie, ist ja klar, wir alle haben Angst, habt ihr was von eurer Familie gehört?,
könnt ihr noch telefonieren? Und Dragana richtet das Rüstmesser gegen mich, als
wäre ich eine grosse Kartoffel, der man gleich mehrere Augen ausstechen muss. Aber
wahrscheinlich bin ich es, die daran denkt, sie aus dem Weg zu räumen, ich
jedenfalls überlege mir, ob die Welt ein Problem weniger hätte, wenn wir beide,
eine bosnische Serbin und eine Ungarin aus der serbischen Provinz Vojvodina,
tot auf dem Küchenboden, auf einem Linoleumboden liegen würden. Nein, die
Leitung ist tot, antworte ich (und alle, ausser Janka, haben sich bis anhin an
der Beogradska getroffen,
bei Onkel Móric und Tante Manci, weil sie bis heute die Einzigen sind, die ein
Telefon haben, alle, auch die Ältesten trinken süssen, türkischen Kaffee, es
gibt niemanden, der sich nicht die Hände wäscht, bevor er sich zum Telefon
setzt, alle reihen sich auf dem Sofa auf, mit gestärkten Hemden, gebügelten
Blusen, frisch bespuckten Scheiteln, denn man weiss nie, wozu die heutige
Technik fähig ist, mit einem Mal kann das Telefon sehen, und ist es nicht schon
heute so, dass man die Verwandten in der Schweiz sieht, den Bruder? Und ach,
die Kinder!, wenn man ihre Stimmen hört, wie sie durch die Leitung flattern?,
und es kann Stunden dauern, bis der Erste vom Sofa aufsteht, den Zirkel
verlässt, wo jedes Wort der Verwandten nach dem Aufhängen des Hörers noch
einmal gedreht und gedeutet wird, es ist ein den Nachmittag füllendes Ereignis,
das Telefonieren mit dem Ausland).
    Ildi, brauchst du eigentlich
sonst noch was, fragt Dragana, ausser deinem Ei, Dragana, die jetzt die Restabfälle
in den Kompost wirft,

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