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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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dem Behälter klopft,
irgendwer macht da einen Fehler, sagt Vater, als er wieder ins Wohnzimmer
kommt, sich mit seinem Glas in den Sessel setzt. Kommt nicht Dragana aus
Sarajevo, fragt Nomi, ja, klar, aber ist sie Serbin oder Kroatin?, oder sogar
Muslimin?, weiss ich nicht, antwortet Vater, will ich gar nicht wissen, es ist
besser, wenn wir uns da nicht einmischen, und er zappt zum ungarischen Sender;
wir können es uns nicht leisten, im Geschäft über Politik zu reden, sagt
Mutter, vor allem jetzt nicht, wo die Lage immer angespannter ist - wisst ihr
was, wir müssen den Leuten zeigen, wir sind I ndividien, und irgendwann werden sie uns
nicht mehr bemerken, dann sind wir Luft für sie, das ist am besten, und wenn
euch irgendjemand nach eurer Meinung fragt, wir haben keine Meinung —)
    Ildi, hörst du nicht, wie sie
rufen? Und ich, die nicht weiss, was sie sagen soll, überall behaupten sie, wir
Serben sind schuld, und Dragana presst meine Wangen zwischen ihre Hände, die im
Fernsehen könnd
mir verbelle, was wand, die haben doch keine Ahnung, was da los ist, alle sind
schuld, Ildi, die Serben schiessen von den Bergen, Izetbegovic opfert seine
Menschen, damit er sagen kann, die Muslime sind Opfer und die Serben schuld an
allem, und die Kroaten verbünden sich mit den Serben, wenn es ihnen gerade
passt (mitten in Europa, denke ich, heute, nicht in der Vergangenheit), ja, ich
höre sie rufen, sage ich plötzlich, um Dragana zu trösten, zu beruhigen oder um
sie endlich zum Schweigen zu bringen, und Dragana hat einen Moment abgewartet,
in dem wir allein sind, in der Küche (Vater, der einen Grosseinkauf macht, Marlis,
die unten im Keller das Lager aufräumt), sag schon, wie hörst du sie?, was
hörst du genau, harsch du sie au am Nacht? Am Schlimmste isch es, wenn der Mond so
rund und blöd isch, dann spucken sie mir alle ins Ohr, meine Schwester,
mein Sohn, meine Tanten, sie spucken in mein Ohr und rufen nach mir, Dragi,
Dragi, hast du uns vergessen? Ildi, weisch du, wie alt mein Sohn isch? nüün Jahr, jagt sie, neun Jahre alt sei
er, und
kann nüt komme, in Schwiiz (und Dragana streckt ihre Hände in die Höhe, als sei sie
gerade verhaftet worden), fast vier Monate müssten sie noch warten, wegen dem
Gesetz!, das sei doch länger als ein Menschenleben, jetzt, wo jeden Tag
Hunderte von Menschen sterben, und ich zucke zusammen, Dragana, die mir ein
Foto hinstreckt, ich müsse ihn anschauen, ihren Sohn! Und nur widerwillig
schaue ich ihn an, den Jungen mit seinem schüchternen Gesicht und Augen, die
so schön sind wie nur Augen sein können; ein Kind in den Armen der Grosseltern
und hinter ihnen ein Haus, ein halbes Haus, denke ich.
    (Meine Mamika, deren Murmeln
ich immer gehört habe, wenn ich schlaflos im Bett lag, das feine Geräusch ihrer
Rosenkranzperlchen, die sich berührten, als Mamika sie drehte, weiterdrehte
und dann, nach dem Beten, ihre Stimme, die klar und hell sang: Von meiner Mutter habe ich das
Herz einer Taube, von meinem Vater habe ich das frohe, musik verliebte Gemüt.
Meine Liebste, du mit dem weissen Seelchen, meine Eltern haben mich zu allem
Schönen, Guten erlogen, zur Liebe und zu heissen Küssen ...
    Gestern, nachts, als ich
schlaflos im Bett lag, habe ich mich an Mamikas Rosenkränze erinnert, Mamikas Überzeugung,
dass Beten und Singen der harten Wirklichkeit wenigstens die äusserste Spitze
nehmen können, und in den schlimmsten Zeiten ihres Lebens, da habe das fortwährende,
lautlose Beten sie durch den Tag getragen, sie sei diesen Worten blind gefolgt,
in die Zukunft, die es ohne diese Worte nicht gegeben hätte.)
    Ich wusste, du hörst sie auch,
sagt Dragana, küsst das Foto, lässt es wieder in ihrer Bluse verschwinden, und
wenn die Schweizer ihren Sohn jetzt reinlassen würden, könnte er doch nicht
kommen, weil er eingeschlossen sei in Sarajevo; und ich erschrecke darüber,
dass Draganas Blick so fiebrig und hoffnungslos ist, wie sie mich anschaut, mir
erzählt, dass sie ihren Sohn pfeifen hört, ganz hoch und durchdringend (die
Wahrheit ist schrecklich und für niemanden bestimmt), und plötzlich, in diesem
Moment, taucht Janka auf, wahrscheinlich weil Dragana nicht aufhört, von den
Summen zu sprechen, die sie hört, ihrem Schuhmacher, den sie seit Jahren nicht
mehr gesehen habe, sogar sein altes Fahrrad quietsche in ihrem Ohr, und er habe
oft mit ihr geschimpft, sie solle nicht so schief durch die Welt gehen; all
unsere Tanten, Onkel, Cousinen, sie waren für mich schon immer da

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